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»Hopp, hopp - ‘raus aus dem Bunker und ‘ran an die Spitzhacke.«

»Nee«, sagte Wiedeck, »Ablösung ist bereits fällig. Ich bin schon seit zehn Stunden - die ganze Nacht - hier. Und die ganze Zeit hab’ ich nichts zu fressen gekriegt und keine Ruhe gehabt. Feierabend!«

»Ruhe? Ist die Wehrmacht etwa ein Sanatorium?« schrie Krüll. Er kam sich sehr stark vor. Mit Hefe und Kentrop war er mit vier Schlitten von Gorki an die Schanzstellen gefahren, in der Morgendämmerung, bei Feindeinsicht, ohne daß die Russen auf sie reagiert hätten. Das ließ in Krüll den Verdacht aufkeimen, daß alle Meldungen von den Sowjets, die auf jeden

Punkt schossen, der sich über das Schneefeld bewegte, weit übertrieben seien und nur dazu dienten, eine ruhige Kugel zu schieben. Allein, das blieb noch rätselhaft, woher die große Zahl der Verwundeten und Toten kam. Aber darüber machte er sich jetzt keine Gedanken. Wahrscheinlich gab’s ‘ne Menge Selbstverstümmelungen. Himmel, man wird besser aufpassen müssen!

Gleich nachdem er in den ausgehobenen Gräben angelangt war, beschloß er, einen Erkundungsgang zu machen - und anstatt hart arbeitender Männer fand er müde, in den Bunkern und auf den Grabenböden hockende Gestalten, die auf Ablösung warteten. So kam er auch zu dem kleinen, vorgeschobenen SMG-Bunker, in dem Wiedeck hockte.

Es sah gar nicht so schlecht aus, in solch einem Bunker. Harte Erdrinde, Holzbretterverschalungen, dicke Abstützbalken, ein paar Nischen, in denen man Bretterbetten mit Strohsäcken aufstellen konnte. Richtig komfortabel. Aber er hatte noch Zeit, er konnte sich später umsehen, zunächst einmal mußte er diesen widerspenstigen Wiedeck zum Teufel fahren lassen. Er machte den Mund auf, um loszubrüllen, doch ein gefährliches, entferntes Donnern ließ ihn innehalten. Gleich darauf heulte es durch die Luft, vier-, sechs- und achtmal krachte es, der Boden und die Bunkerwände vibrierten leicht, als ginge durch sie ein Fieberschauer. Krüll hielt sich an einem Abstützbalken fest und zog den Kopf tief ein. Sein dickes Gesicht war blaß geworden, und auf seiner Stirn standen trotz eisiger Kälte plötzlich Schweißtropfen.

»Was is’n los?« fragte er, als der Feuerüberfall vorbei war.

»Russen«, sagte Wiedeck lakonisch. Er hatte sich von seinem Bretterstapel nicht gerührt. Zusammengesunken, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, saß er da und sah Krüll an.

»Russen? War das .«

»Artillerie. Ich dachte, Sie wüßten das, oder waren Sie noch nie draußen?«

»Schnauze!« bellte Krüll. Wiedeck hatte eines seiner tiefsten Geheimnisse angerührt. Seinen Papieren nach hatte er bereits Fronteinsatz hinter sich - 1939 in Polen und 1940 in Frankreich. Daß seine Einheit durchweg als Reserve eingeteilt war, die viele Kilometer hinter der vorstürmenden Truppe marschierte, den Kanonendonner nur von weitem hörte, sich aber sonst vornehmlich mit Hühnchen, Eiern, Wein und anderen Annehmlichkeiten eines Vormarsches beschäftigte, das brauchte ja niemand zu wissen. Später machte er Dienst in der Etappe, wo er Rekruten und danach den Soldaten des Strafbataillons beizubringen hatte, wie sie sich im feindlichen Feuer verhalten sollten. Die Einschläge der leichten russischen Artillerie rund um den Bunker waren die ersten, die er in seiner langen soldatischen Laufbahn aus solcher Nähe erlebte.

»Geht das oft so?« fragte er, kleinlaut geworden.

»Die Russen haben Sie kommen sehen. Jetzt lassen sie Sie nicht mehr ‘raus«, sagte Wiedeck gleichgültig. »Sind Sie mit der Ablösung gekommen?«

»Ja, natürlich, mit wem denn sonst.«

»Oh, verdammt, dann muß ich mich ja beeilen!« Wiedeck erhob sich, schnallte die Feldflasche ans Koppel und setzte den Helm auf. Während er die Kapuze seines Tarnanzuges über den Helm zog und unter dem Kinn mit dem Zugband befestigte, schielte er zu Krüll hinüber, der immer noch den Pfosten umklammerte. »Bleiben Sie noch hier, Herr Oberfeld?«

»Ja, natürlich!« Doch Krülls Stimme war nicht mehr so entschlossen. Er hatte vergessen, daß sich Wiedeck vorhin eine ungeheuerliche Disziplinlosigkeit erlaubt hatte, für die er ihn zur Rede stellen wollte. Er beneidete den Abgelösten und suchte nach einer Möglichkeit, sich ihm anzuschließen. Aber wie? Der Kompaniechef hatte ihm befohlen, die Gräben auszumessen, und er selbst hatte gesagt, es am hellichten Tag tun zu wollen. Ich bin ein hirnverbrannter Idiot, dachte er, wie konnte ich nur ... wie konnte ich nur? Aber allein bleiben wollte er hier nicht. Das konnte keiner von ihm verlangen. Er würde mit Wiedeck zurückgehen, zu den anderen, da wird man schon weitersehen. Nur nicht allein bleiben! Eine einzelne Granate heulte hoch über den Bunker hinweg und schlug krachend ins Hinterland. Nur nicht allein bleiben .!

»Wo wollen Sie hin, Wiedeck?« fragte er heiser.

»Zur Sammelstelle. Die warten auf mich.«

Er trat hinaus aus dem Bunker, und Krüll ging hinter ihm her. Draußen herrschte die lange russische Dämmerung, vor einem trüben, grauen, schneeverhangenen Tag.

»Höchste Zeit - hoffentlich sind sie nicht ohne mich weg«, murmelte Wiedeck. Er hatte Angst, die Ablösung verdöst zu haben, er mußte sich beeilen, sonst konnte ihm passieren, daß er den ganzen Tag hier festgenagelt war. Tagsüber konnte man nicht über das Schneefeld.

Und dann kam es.

Von den russischen Linien gab es einen Riß durch den Himmel. Und dann rauschte es, pfiff, heulte, orgelte es durch die Luft, eine blitzende, schwarze Feuerwand stieg vorne aus der Erde, dort, wo die deutsche HKL lag.

Wiedeck sah über den Grabenrand, drehte sich dann nach dem wie ein Häufchen Elend zusammengekauerten Krüll um und schrie: »Los jetzt - wenn Sie mitkommen wollen! Jetzt geht’s noch, dann nicht mehr. Dann schießen die Russen Sperrfeuer, und wir können uns nicht mehr rühren.«

Es war ein gewöhnlicher trommelfeuerartiger Überfall der schweren russischen Artillerie vor einem Angriff der Panzer und der Infanterie in der frühen Morgendämmerung. Ein vorbereitender Feuerüberfall, wie er zu dieser Zeit, und bestimmt auch zu dieser Minute, an Hunderten von Stellen der Ostfront losbrach, und einen Tag einleitete, der so voll Sterben, Qualen und tödlicher Angst war wie ungezählte Tage vor ihm und nach ihm.

Es war kein besonders starker Feuer Überfall. Jedenfalls erreichte er nicht die vernichtende, wütende Zerstörungskraft anderer Feuerüberfälle, die Großoffensiven einzuleiten pflegten. Aber für Soldaten, die ihn über sich ergehen lassen mußten und nichts andres tun konnten, als sich in die gefrorene Erde zu krallen und auf den Schlag zu warten, der sie auslöschen würde, war es die Hölle auf Erden.

Hölle für die Infanteristen in der HKL. Ein Vorgeschmack auf die Hölle, die bald kommen mußte, für die Soldaten des Strafbataillons dahinter. Und eine Hölle für Krüll, der sich plötzlich einer Situation gegenübersah, die er sich bis jetzt nicht vorstellen konnte. Wohl wußte er, daß man im Krieg sterben konnte. Aber dieser Tod hatte für ihn immer etwas Glo-rienumwobenes, Schmerzloses - ein tapferer, großartiger Soldatentod, von dem er überdies annahm, daß er ihn nie treffen würde. Das aber, was jetzt geschah, war etwas ganz anderes. Das, was jetzt riesengroß vor ihm aufstand, hatte keine Ähnlichkeit mit dem Soldatentod aus den Büchern. Es war ein elendes, anonymes, unpersönliches, angstvolles Krepieren. Es kam auf ihn zu, es drohte ihn zu umschlingen, unter sich zu begraben und machte ihn zu einem furchtgepeinigten Häufchen Mensch, der sonst nichts tun wollte, der keinen Wunsch mehr hatte, als den, zu leben. Am Leben zu bleiben.

Und als einige russische Granaten kurz vor dem Graben krepierten, in dem Wiedeck und er hockten, und als er sah, daß Wiedeck wirklich weglaufen wollte, der einzige Mensch außer ihm in dieser grauenhaften, von detonierenden Granaten zerrissenen Weite, verlor er das letzte Fünkchen Selbstbeherrschung. Er wollte nicht, er konnte nicht weiter und noch weniger konnte er allein bleiben. So umklammerte er Wiedecks Arm und schrie: »Sie bleiben ... Sie bleiben ... nicht weggehen, nicht!«