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»Zum Teufel, lassen Sie mich los!« schrie Wiedeck zurück und versuchte ihn abzuschütteln. Aber Krüll klammerte sich wie eine Klette an ihn und zog ihn herab. »Loslassen!« schrie Wiedeck und duckte sich vor einer heranzischenden und in der Nähe krepierenden Granate.

»Ich kann nicht allein - ich kann nicht hierbleiben!«

»Dann kommen Sie doch mit!«

»Wiedeck ...«, keuchte Krüll, »Wiedeck, Mensch, wir sind doch Kameraden, bleib hier und hilf mir beim Ausmessen, hörst du?«

»Ich bin doch nicht verrückt!«

»Wiedeck - Erich .«

»Scheiß drauf!« Er riß sich los, aber Krüll gab nicht nach. Er sprang hinter ihm her und riß ihn zurück. Halb hockend klebten sie eng aneinandergepreßt an der Grabenwand.

»Ich sag’ dir zum letztenmal - laß mich los. Du sollst mich loslassen, sonst schlag’ ich dir den Schädel ein!« sagte Wiedeck kalt und beherrscht. Aber er wußte, daß er sich nicht mehr lange würde beherrschen können. Es war nicht das erste Mal, daß er einen Mann zusammenbrechen sah. Aber alle vor Krüll waren seine Kameraden gewesen. Dieser aber hier, dieses Schwein, der Schinder mit dem großen Maul ... er mußte ihn loslassen, sonst ...

»Du kannst doch nicht deinen Kameraden allein lassen - sie schießen!« stammelte Krüll mit grauem, eingefallenem Gesicht. Über sein Kinn lief der Speichel. Ein Bild unmenschlicher, widerlicher Angst. Und genau das war es, was Krüll nicht hätte sagen dürfen. Jeder andere, ja, aber nicht Krüll. Wiedeck hob die Hand und schlug dem Oberfeldwebel mit ganzer Kraft ins Gesicht und noch einmal und zum drittenmal. Krüll sank in sich zusammen, aber Wiedeck hob seinen Kopf empor und schlug immer wieder in diese widerliche, verzerrte Fratze. »Kamerad«, zischte er, »du und ein Kamerad! Ja, sie schießen. Es ist ja Krieg. Scheiß in die Hosen, du Kamerad, und dann stirb den Heldentod, du erbärmlicher Hund! Du elender, erbärmlicher Hund! Ich schlag’ dich tot!«

Doch plötzlich ekelte ihn dieses Häufchen Elend an. Es wurde ihm gleichgültig. Er schlug noch einmal und wie abschließend zu, daß Krülls Kopf gegen die Grabenwand donnerte. Dann rannte er, den Kopf eingezogen, durch den Graben, warf sich hin, als eine Granate heranheulte und etwa dreißig Meter vor ihm einschlug, sprang wieder auf und lief weiter, der Sammelstelle zu.

Als er um die Ecke des Grabensystems flitzte, war der Platz leer. Der Schnee war zertreten von vielen Stiefeln, eine einsame Schaufel lehnte an der Grabenwand. Ziemlich weit weg hörte er schanzen - das wird die Ablösung sein, die tagsüber arbeitete. Ab und zu sah er das Blatt eines Spatens über den Grabenrand blitzen, den kurzen Strahl einer geschwungenen Spitzhacke. Erd- und Schneehaufen quollen aus der Erde, als würde ein riesiger Maulwurf das Land zerwühlen. Die russische Artillerie schoß jetzt Sperrfeuer hinter die deutsche HKL. Nicht lange und das Feuer würde zurückverlegt werden - und dann war er mitten drin.

Wiedeck wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die anderen waren abgerückt. Er war für den ganzen Tag hier festgenagelt. Und er mußte sich beeilen. Der beste Bunker war eigentlich der, aus dem er jetzt gekommen war. Aber dort war Krüll ...

Wiedeck lief zurück.

Er fand Krüll immer noch an der Stelle, wo er ihn stehengelassen hatte; zusammengesunken, voll Erde und Dreck hockte er auf dem Grabenboden und sah ängstlich und dankbar zugleich empor, als Wiedeck mit der Stiefelspitze gegen ihn stieß.

»Bist du wieder zurück?« fragte er mit kleiner, gebrochener

Stimme, als ob er nicht glauben wollte, daß er nicht mehr allein sei, nicht mehr allein in diesem schrecklichen Graben, mitten in einer schrecklichen, drohenden Welt, die es darauf anzulegen schien, ihn zu vernichten.

»Die andern sind abgehauen, ich bin zu spät gekommen, weil du mich festgehalten hast, du Scheißkerl. Jetzt können wir den ganzen Tag hier hockenbleiben. Los, komm jetzt mit in den Bunker.«

Wiedeck spürte keinen Haß mehr gegen Krüll, seine Wut war verflogen, und zurück blieben nur Gleichgültigkeit und eine Spur von geringschätzigem Mitleid.

»Den ganzen Tag«, murmelte Krüll, als er hinter Wiedeck in den Bunker kroch. Er wußte, daß er sich elend benommen hatte. Aber er schämte sich dessen nicht; es war ihm gleichgültig. Man konnte Heldentum nicht befehlen. Er war kein Held. Warum sollte er das verbergen? Mit zitternder Hand holte er aus seiner Tasche eine Packung Zigaretten, brach sie auf und hielt sie Wiedeck hin.

Wiedeck nahm eine Zigarette, ohne Krüll anzusehen. Er konnte diesen erbärmlichen Anblick kaum ertragen. »Solltest du nicht die Gräben ausmessen?« fragte er spöttisch. »Es fehlen noch fünfzig Meter, erzählte mir Hefe, und du hättest das herausbekommen. Du hast das doch genau berechnet. Paß mal auf - ich mach’ dir einen Vorschlag: Wenn die Iwans sich beruhigt haben, gehen wir hinaus und messen nach. Du mißt, und ich schreibe auf - wenn wir bis dahin nicht abgekratzt sind.«

»Wie meinst du das?«

»Ja, hörst du blöder Hund nicht, daß die Russen angreifen? Mach deine Ohren auf!«

Ganz deutlich hörte man von vorne, von der HKL, das rasende Rattern der Maschinengewehre, das Gedröhn der Granatwerfer - und dann ein paarmal hintereinander das helle trockene Krachen der Handgranaten. Und dahinter war noch ein Geräusch; kaum hörbares, manchmal lauter aufdröhnendes Gebrumm schwerer Motoren.

»Panzer«, sagte Wiedeck. »Hoffentlich brechen sie nicht durch.«

Krüll sah ihn mit großen, erschrockenen Augen an. Es war jetzt etwas Kindliches in ihnen, ein Staunen und Nichtbegreifen, das seinem grauen, nicht mehr ganz so aufgedunsenen Gesicht den Schein einer nahezu rührenden Hilflosigkeit gab. Aber Wiedeck sah es nicht. Und hätte er es gesehen, so würde es keinen Eindruck auf ihn gemacht haben.

»Wir wollen hoffen«, sagte er dann, »daß die Kumpels vorne durchhalten. Und dann gehen wir messen. Obermeier hat es doch befohlen, oder?«

»Obermeier kann mich kreuzweise«, sagte Krüll.

»Ach nee!« meinte Wiedeck spöttisch. »Wer hat denn immer von der Disziplin gequatscht? Warst du es, oder war ich das?«

Rruuums, schlug es ganz in der Nähe ein.

»Das war knapp«, sagte Wiedeck ruhig.

Krüll hockte auf der Erde. Sein Mund war voller Gallensaft, bitter, in der Kehle brennend. Er konnte es hier drinnen nicht mehr aushalten. Er konnte nicht mehr hier sitzenbleiben und auf das Ende warten, das mit einer tödlichen Sicherheit auf ihn zukam. Er mußte etwas tun, etwas unternehmen, er mußte ‘raus, weg von hier, so weit wie möglich, nur weg aus dieser Rattenfalle! Er sprang plötzlich auf und taumelte gegen den Ausgang des Bunkers.

»Halt! Wohin?« Wiedeck bekam ihn an der Tarnjacke zu fassen und riß ihn zurück. »Wo willst du hin, du Idiot?«

»Laß mich!« schrie Krüll. »Laß mich los. Ich will ‘raus!« Mit geballten Fäusten schlug er um sich, sein Gesicht hatte die hilflose Kindlichkeit verloren und war erschreckend drohend und verzerrt. »Ich will weg von hier«, brüllte er. »Die Panzer ... ich will weg!«

Es war nicht sehr leicht, ihn zu überwältigen. Wiedeck atmete schwer, als Krüll endlich auf einem Bretterstapel lag und nur noch leise vor sich hin wimmerte. »Reiß dich endlich zusammen!« sagte er kalt, »du benimmst dich ja schlimmer als ein Weib!«

»Ich will ‘raus hier - ich will ‘raus!« wimmerte Krüll und dann sah Wiedeck, wie er an seiner Pistolentasche nestelte. Doch bevor er die 08 aus dem Futteral reißen konnte, schlug ihn Wiedeck mit einigen harten, wuchtigen Schlägen nieder und nahm ihm die Pistole weg.

Draußen heulte es laut und durchdringend durch die Luft, und dann schlug es langanhaltend donnernd in die Erde, viele Explosionen, die wie eine einzige klangen.

Stalinorgeln.