Wiedeck sah nach, ob eine Kugel im Lauf der Pistole war. Dann sicherte er die Waffe wieder. »Wo hast du die Munition?«
»Warum?« fragte Krüll störrisch.
»Los, gib schon her!«
Krüll gab ihm vier Munitionsstreifen. Das war so gut wie nichts. Aber wenn die Russen tatsächlich durchbrachen, wollte Wiedeck wenigstens nicht ohne Waffe in der Hand zum Teufel gehen.
Er schob die Pistole hinter das Koppel.
»Los, Krüll, ‘raus jetzt!«
»Wohin denn?«
»An die frische Luft. Los doch!«
Durch die dichten Explosionen rannte Wiedeck Krüll voraus. Er brauchte sich nicht umzusehen, er wußte, daß Krüll ihm wie ein Schatten folgte. In weiten Sprüngen hetzte er der Senke zu, wo der Auffanggraben endete. Krüll keuchte ihm nach. Den Helm hatte er verloren, er warf sich hin, wenn Wiedeck sich in den Schnee warf und sprang auf, wenn Wiedeck wie ein gehetzter Hase durch die Einschläge jagte.
In den Minuten ihrer Flucht nach hinten bestand Oberfeldwebel Krüll seine Feuerprobe. Er machte eine Wandlung durch wie vor ihm schon unzählige Soldaten. Nicht daß er ein anderer geworden wäre - er blieb der alte, rücksichtslose, beschränkte Oberfeldwebel, der er bis dahin gewesen war. Aber die hündische, wimmernde Angst fiel von ihm nach und nach ab. Er gewann wieder Selbstsicherheit zurück, und die Welt um ihn rückte wieder in ihre gewohnten Dimensionen. Das heißt, es war die Welt, die er bis dahin kannte, verändert nur durch das brüllende Inferno um ihn, durch Granateinschläge, spritzende Erde, surrende Splitter ... Sicherlich blieb in ihm immer noch Angst zurück; aber es war die normale Angst aller Soldaten, die in ihren Gräben weiter aushielten und gegen die Angreifer ankämpften. Wiedecks Angst oder Hefes oder Kentrops oder Deutschmanns ...
So war Krüll nach langen Jahren des Uniformtragens doch noch ein Soldat geworden, der mit einem Male verstand, daß es gerade die entsetzliche panische Angst vor dem Tode ist, die viele blind in ihren Untergang rennen läßt. Wie vorhin in dem Bunker, als er herauslaufen wollte und ihn Wiedeck niederschlagen mußte, damit er es nicht wirklich tat und mitten in die krepierenden russischen Granaten lief. Genaugenommen hatte ihm also Wiedeck das Leben gerettet. Aber auch darüber machte sich Krüll keine großen Gedanken; auch nicht später. Wiedeck hatte nur das getan, was er, Krüll, in Zukunft auch tun würde. Jedem gegenüber, der die gleiche Uniform trug und mit dem er sozusagen in einem Boot saß.
Aus dem anmaßenden, selbstsüchtigen Einzelgänger Krüll wurde jetzt ein Mann, der keine dieser Eigenschaften verlor und dennoch in eine Gemeinschaft gefunden hatte, wie sie nur Männer kennen, die gemeinsam lange Zeit hindurch auf Leben und Tod verbunden waren.
In einem gut ausgebauten Bunker weiter rückwärts warteten sie das Ende des russischen Feuerüberfalls ab. Die HKL hatte dem russischen Angriff wieder einmal standgehalten. Und als der Feuerzauber vorbei war, ging Krüll hinaus, um Obermeiers Befehl auszuführen und die Gräben auszumessen. Wiedeck befahl er, im Bunker zu bleiben. Und als eine halbe Stunde später ein Mann mit warmem Kaffee, einem Kanten Brot und etwas Schnaps erschien und es Wiedeck gab, mit der Bemerkung, die Sachen schicke Oberfeldwebel Krüll, fragte sich Wiedeck verblüfft, was mit dem Spieß geschehen sei. Doch während er die dünne schwarze Brühe trank und an dem Brotkanten kaute, begann er zu verstehen. Er war ein alter Frontsoldat, und oft schon hatte er Ähnliches erlebt.
Hoffentlich legt es Krüll jetzt nicht darauf an, das EK zu verdienen, dachte er. Wahrscheinlich wäre er jetzt imstande, Dinge zu drehen, wie man sie von »heldenhaften deutschen Soldaten« in den Zeitungen liest. Und so ein Krüll, dachte Wiedeck schläfrig, wäre noch gefährlicher als der alte ...
Kapitel 9
Der Schlitten schüttelte und rumpelte durch die Nacht, Orscha entgegen. Deutschmann saß, gegen den Schlaf ankämpfend, neben dem Fahrer auf dem Bock. Dr. Bergen hatte ihn nach Orscha geschickt, um Sanitätsmaterial zu holen. Kronenberg und die anderen Sanitäter des Bataillons waren unabkömmlich, es gab zu viele Verwundete, die man versorgen mußte, bevor sie zurückgeschickt werden konnten. Die 2. Kompanie betreute während der Abwesenheit Deutschmanns ein anderer Hilfssani - das heißt, er organisierte den Transport der Verwundeten nach Barssdowka. »Sie verstehen etwas davon, von diesen Medikamenten und dem ganzen Krempel, den wir brauchen«, hatte Dr. Bergen zu Deutschmann gesagt. »Gehen Sie hin, hier haben Sie eine Liste, und schlagen Sie sich mit diesen Etappenhengsten herum. Aber lassen Sie sich nicht abfertigen, bevor Sie nicht alles haben. Ich weiß genau, daß die Magazine voll sind.«
Vor diesem Auftrag hatte Deutschmann Angst. Er fürchtete sich, nach Orscha zu fahren, denn er wußte nicht, ob er stark genug sein würde, der Begegnung mit Tanja auszuweichen. Ob er stark genug sein würde, nicht in das kleine Blockhaus in der Nähe der Brücke über den Dnjepr zu gehen. Denn er sehnte sich nach dieser Begegnung, er sehnte sich nach Tanja, nach ihrem schmalen, weichen Gesicht, nach ihrem feingliedrigen Körper, nach dem Blick ihrer graugrünen Augen, nach der Wärme und Hingabe, die sie ausstrahlte.
Die Straße war aufgewühlt und vereist. Der Schlitten rumpelte über die Buckel wie verrückt. Deutschmann hielt sich fest und stemmte die Stiefel gegen das Schutzblech, Der Fahrer neben ihm, ein alter Obergefreiter der Transportkompanie, rauchte eine Hängepfeife, die er mit Machorka gestopft hatte. Er stank, der Rauch biß Deutschmann in die Augen. Er wandte den Kopf ab und starrte über das Schneefeld und das wie ausgestorben daliegende Kusselgelände, durch das sich der vereiste Dnjepr zog.
Der Obergefreite stieß Deutschmann mit dem Ellbogen in die Seite. »He, du!«
»Ja?«
»Du bist doch von 999? Ist ein Sauhaufen, was?«
»Na ja«, sagte Deutschmann.
»Kriegt ihr überhaupt etwas zu fressen?«
»Es geht.«
»Aber satt davon werdet ihr nicht?«
»Wirst du etwa immer satt?«
»Nee - da hast du recht. Stimmt’s, daß ihr alle zum Tode verurteilt seid und dann begnadigt? Oder wie geht das?«
»Einige waren’s.« »Du auch?«
»Ich auch.«
Der Obergefreite schwieg. Er rauchte hastig und blies den ätzenden Qualm vor sich her.
»Was hast du denn angestellt?« fragte er nach einer Weile.
»Das ist doch unwichtig.«
»Na ja, man ist halt neugierig«, sagte der Obergefreite. Er schien ein bißchen eingeschnappt, und es dauerte eine ganze Weile, bevor er wieder begann:
»Ein Vetter von mir ist auch in so einem Haufen«, sagte er.
»Er hat mal die Schnauze aufgemacht, wo es besser gewesen wäre zu schweigen.«
»Dann weißt du ja Bescheid.«
Der Obergefreite schwieg und spuckte in den Schnee. Dnjepr. Vor ihnen tauchte die Silhouette der Stadt auf. Am Fluß, hinter der großen Holzbrücke, Tanjas Haus. Dünner Rauch stand über dem Dach. Deutschmanns Herz klopfte langsam und schwer. Er könnte jetzt aussteigen und hinuntergehen, sie war zu Hause, er würde an die Tür klopfen und eintreten, oder vielleicht würde er gar nicht anklopfen, sondern ganz leise den steilen Pfad hinuntergehen und einfach eintreten, sie würde am Herd stehen und ihn nicht kommen hören, und er würde von hinten die Hände über ihre Augen legen und nichts sagen. Sonst wüßte sie sofort, wer er ist, und dann würde sie sich umdrehen, und er würde sie ganz fest an sich drücken ...
»Jetzt sind wir gleich da«, sagte der Obergefreite.
»Wann fahren wir zurück?« fragte Deutschmann.
»Morgen früh.«
»Heute können wir nicht mehr zurück?«
»Ich möchte den Idioten sehen, der nachts durch das Partisanengebiet fährt!«
Erst morgen früh, dachte Deutschmann, dann bleibe ich die ganze Nacht hier. Ich könnte zu ihr gehen und bei ihr bleiben.
Ich könnte ...
Sie fuhren zwischen die armseligen dunklen Hütten der Randgebiete der Stadt.