»Das wollte ich Ihnen ja sagen. Ich habe gerade geträumt, ich wäre in Hamburg mit so ‘ner hübschen Blonden ... Sie können gar nicht glauben, was für tolle Hüften sie hatte. Und nun kommen Sie ...«
»Sie haben geschlafen - und Sie geben es zu?«
»Na klar«, sagte Schwanecke. »Allerdings habe ich Sie schon bei der dritten Krümmung von hier ab gehört. Sie haben auf der Kriegsschule nicht aufgepaßt, Herr Oberleutnant! So darf man sich an der Front nicht anschleichen!« Sein Gesicht grinste, seine Stimme grinste - nur seine Augen waren kalt, leblos wie zwei Glaskugeln.
»Wissen Sie, was das bedeutet?« fragte Bevern lauernd.
»Nee. Was denn?«
Bevern sagte langsam: »Schlafen auf Posten in unmittelbarer Nähe des Feindes ...«
»Ach so - das meinen Sie! Und wie geht’s weiter?«
»Kriegsgericht«, sagte Bevern ruhig. »Und das wird gleich hier bei uns erledigt. Packen Sie Ihre Siebensachen, Sie kommen mit.« Er war ruhig, Schwaneckes dreckige Antworten prallten wirkungslos an ihm ab. Warum sollte er sich noch darüber aufregen, der Mann war sowieso erledigt.
»Darf ich nicht bevor nicht die Ablösung kommt«, sagte Schwanecke. »Leisten Sie mir so lange Gesellschaft, Herr Oberleutnant? Wir könnten uns - wir könnten uns aussprechen, Herr Oberleutnant. Was meinen Sie? ... Wir sind ja ganz allein hier, und wir bleiben noch eine ganze Weile allein. Es ist doch eine Gelegenheit ... ein Wort unter Männern ...«
Die kalte, überlegene Ruhe fiel langsam von Bevern ab. Schwaneckes Worte drangen nur nach und nach in sein Bewußtsein, doch dann verstand er. Über seinen Rücken kroch es eisig, und er machte einen Schritt zurück, als wollte er in den Laufgraben entweichen. Doch Schwanecke streckte ganz langsam den Arm aus, packte ihn an den Mantel aufschlägen, zog ihn zu sich und drehte sich dabei selbst so, daß er den Rückweg versperrte.
Bevern war unfähig, sich zu widersetzen. Es war zu ungeheuerlich, was jetzt geschah, es war unmöglich. Doch als er in Schwaneckes Gesicht sah, stürzte die Wirklichkeit über ihn: Es blieb wahr. Und dann sah er, wie sich Schwaneckes grinsender Mund öffnete und wie aus ihm langsam Worte kamen und wie Lebewesen in ihn drangen und von ihm Besitz ergriffen, bis jede Zelle seines Körpers von ihnen durchdrungen war:
»Vors Kriegsgericht, sagst du? Erschießen, sagst du? Puffpuff - und weg ist Schwanecke, meinst du? Das würde dir so gefallen, was? Schwanecke tot und Bevern - oder wie du schon heißt - freut sich wie ein Schneekönig ...«
»Lassen Sie mich vorbei!« zischte Bevern.
»Aber, aber, sachte, sachte! Ich habe gesagt, wir wollen ein Wort unter Männern sprechen, du Schwein! Kannst du dich erinnern? Wir haben über viele Sachen zu sprechen. Nicht doch, nicht die Pistole, was willst du damit? Ich müßte dir auf das Pfötchen schlagen - weg die Hände!«
Bevern ließ ab von der Pistolentasche. »Was wollen Sie -wissen Sie, was das bedeutet? Behinderung eines Vorgesetzten .«
»Halt’s Maul!« Schwanecke wischte sich über die Augen. Kleine Eisstückchen klebten an den Wimpern, jetzt grinste er nicht mehr, und Bevern hatte plötzlich das Empfinden, daß er weit, weit weg war von hier, wie ein Mann, der angestrengt über irgend etwas nachdachte. Und dann kam er wieder zurück, und als er weitersprach, grinste er nicht mehr:
»Du bist ein verdammtes Schwein - und ich werde dich jetzt erledigen. Was glaubst du, wie sich die andern freuen werden, wenn du ein toter Mann bist? Das wird ein Feiertag für das ganze Bataillon. Kriegsgericht - meinst du? Nicht ich werde ins Gras beißen - das kannst du mit mir nicht machen!«
»Sie - Sie -!« schrie Bevern mit einer hohen, fistelnden Stimme, sein Gesicht war verzerrt, und aus seinen Augen schrie unsinnige Angst. Und dann rief er um Hilfe, aber seine Stimme ertrank in der weißen Weite umher, und er wußte, daß ihn hier niemand hören würde. Es war umsonst, der Mann vor ihm war der Tod. Es gab keine Hilfe. Das wußte Bevern, und er schrie seine Angst hinaus, aber er schrie nicht nach Hilfe anderer Soldaten, sondern nach Hilfe jener Frau, nach der so viele tödlich verwundete Männer schrien, wenn sie ihr Leben mit dem Blut, das aus ihnen rann, mitten in Schmerzen entweichen fühlten. Er schrie »Hilfe!«, aber er meinte die Mutter: jene stille, bescheidene Frau, die er früher verachten zu müssen glaubte, weil sie sich nichts aus seinem Glauben machte und aus seinen Idealen; und er meinte nicht nur diese bestimmte Frau, die seine Mutter war, sondern alle Welten, die sich hinter diesem Wort verbergen, und die aus ihrem Schoß entspringen, und alle Mütter, die schützend die Hände um die weinenden Kinder legen: die letzte Instanz der Hilflosen und Sterbenden.
Mitten in diesen Schrei schlug Schwanecke zu.
Bevern sank betäubt zu Boden.
Nun handelte Schwanecke schnell und sicher, als hätte er es schon hundertmal durchexerziert.
Ohne den Blick von Bevern zu wenden, jagte er aus dem Maschinengewehr zwei, drei Feuerstöße gegen den Wald, in dem sich, wie er genau wußte, mindestens drei Scharfschützen verbargen. Dann schlug er mit der Handkante gegen Beverns Halsschlagader, packte ihn unter den Armen, hob den schweren, schlaffen Körper ächzend hoch, trug ihn hinter das Maschinengewehr und schob den Ohnmächtigen langsam empor.
Er brauchte nicht lange zu warten.
Schon nach zwei oder drei Minuten hörte und fühlte er einen dumpfen Schlag gegen Beverns Körper, und gleich darauf hörte er drüben im Wald einen Abschuß.
Er ließ den Körper fallen und beugte sich über ihn.
An der Nasenwurzel des leicht erstaunten, ein wenig verzerrten Gesichtes saß ein kleiner, runder, sauberer Einschuß. Der Stahlhelm wies hinten ein gezacktes Loch auf. Ein glatter Durchschuß. Manchmal ist der Krieg doch zu etwas nütze, dachte Schwanecke grimmig, und schießen können die Brüder, verdammt noch mal ...
Dann richtete er sich wieder auf, drehte sich um und jagte eine ganze Serie wütender, langer Feuerstöße gegen den Wald. Immer wieder drückte er auf den Abzug, bis der Gurt leer war. Dann legte er einen neuen ein und jagte auch diesen durch den Lauf, und ein wilder, düsterer Triumph erfüllte ihn, als er das rüttelnde Stoßen des Maschinengewehrs in seiner Schulter spürte und die rasenden Garben den Schnee von den Zweigen im Wald gegenüber peitschten. Seine Augen waren voll flak-kernden Irrsinns.
»So«, sagte er, als auch der zweite Gurt leergeschossen war. »Das genügt.«
Der Tod Oberleutnant Beverns war keine große Sensation. Er wurde registriert, in Listen aufgenommen, in Wehrstammrollen eingetragen. Hauptmann Barth sagte am Telefon zu Obermeier: »Er war ein irregeleiteter Junge - es gibt ‘ne ganze Menge davon.« Und Wernher, der seine Probleme, die Bevern betrafen, so plötzlich und einfach gelöst sah, sagte: »Armer Kerl - stirbt, ohne je ein Mädchen geliebt zu haben ...« Nur Krüll war recht nachdenklich und still. Daß dem schneidigen Bevern niemand eine Träne nachweinte, im Gegenteil, daß es aussah, als ginge ein Aufatmen durch das ganze Bataillon, vor allem aber durch die rückwärtigen Dienste, die Bevern mit Vorliebe unsicher gemacht hatte, machte ihn ängstlich oder gab ihm zumindest zu denken. Er wußte, daß er nicht weniger verhaßt war als Bevern. Wenn er auch ein wenig zahmer geworden war, nach seinem Erlebnis im Graben, wenn er auch fühlte, daß er etwas mehr in die Gemeinschaft der Soldaten gefunden hatte, war er sich seiner Untergebenen nicht sehr sicher - zumal er immer noch der Überzeugung war, daß ein Spieß im Strafbataillon vornehmlich dazu da war, um den Soldaten die Freude am Leben zu vergällen.
Für Schwanecke allerdings war die Sache mit Beverns Begräbnis hinter den Häusern von Babinitschi nicht zu Ende.
Als erster, im Graben noch, hatte ihn Unteroffizier Hefe ausgefragt.
»Bevern ist von den Scharfschützen geknackt worden!« hatte Schwanecke keuchend erzählt, wie ein geborener Schauspieler darauf achtend, daß in seiner Stimme das richtige Maß von Bestürzung war.