»Wo?«
»Bei mir, ganz vorne.«
»Ach ...« Unteroffizier Hefe hatte Schwanecke schief angesehen. »Besser konnte der Affe ja nicht fallen. Wer war dabei?«
»Keiner. Nur ich.«
»Also bist du der einzige Zeuge?«
»Na klar.«
»Und warum hast du nicht verhindert, daß der Idiot über den Graben guckt?«
»Kann ich einem Offizier befehlen?«
»Hast du ihn gewarnt?«
»Aber ja.«
Mit Obermeier war es dann schon schwieriger. Der Oberleutnant ließ ihn heranholen und verhörte ihn eingehend.
»Wie lange waren Sie mit dem Oberleutnant zusammen?«
Schwanecke sah gegen die Decke des Blockhauses. »Vielleicht - na, vielleicht fünf Minuten.«
»Und was sagte Oberleutnant Bevern?«
»Als er mich sah, sagte er: >Da bist du ja, Sauhund!««
Obermeier sah auf seine Hände. Wenn er auch kein Mitleid mit Bevern empfand, so kam ihm der Heldentod des verhaßten Adjutanten doch verdächtig vor, und seine Pflicht als Offizier war - und nicht nur die als Offizier -, daß dieser Tod restlos geklärt wurde. An jeder anderen Stelle hätte man Bevern den unglücklichen Schuß geglaubt und die Sache zu den Akten gelegt. Aber ausgerechnet bei Schwanecke, allein, ohne Zeugen. Das wird eine Situation gewesen sein, dachte er, wie sich Schwanecke eine ähnliche nur erträumen konnte. Die Konsequenzen, die aus diesen Überlegungen erwuchsen, waren ungeheuerlich. Sie waren zu abwegig, um weiter untersucht zu werden, und doch ... und doch: bei Schwanecke hatte man es nicht mit einem gewöhnlichen Soldaten zu tun. Er war ein Krimineller, und man brauchte nur in seine Augen zu sehen, um zu wissen, daß er auch ein Mörder sein konnte.
»Wie ist das passiert?«
»Ich sage: >Obacht, Herr Oberleutnant, da drüben liegen sibirische Scharfschützen<, und er sagt: >Haben Sie Angst, Sie Fla-sche?< Ich sage: >Nein, aber die schießen verdammt genau !< Und er sagt: >Blödsinn!< guckt über den Rand, und da macht’s bumm, und er kippt um. Aus war’s. Es ging alles sehr schnell, Herr Oberleutnant, er wollte ja immer beweisen, daß .«
Obermeier winkte ab. »Schon gut, gehen Sie jetzt, Melden Sie sich beim Oberfeldwebel Krüll.«
Aufatmend verließ Schwanecke den nachdenklichen Obermeier. Er bummelte hinüber zur Schreibstube, begrüßte ein paar alte Bekannte und trat dann bei Krüll ein. Er glaubte, die Sache nun endgültig hinter sich zu haben. Bevern war tot, was konnte ihm, Schwanecke, schon passieren? Er starb den Heldentod, dachte er böse, und dabei wollte er mich vors Kriegsgericht bringen, erschießen, das Erschießungskommando selbst leiten - bums, weg ist der Schwanecke. Aber dabei hat’s bums gemacht, und weg war der Bevern, und keine Spur mehr vom Kriegsgericht ...
Jetzt hat dich der Teufel geholt, dachte er, ich hab’s dir gesagt: Nicht mit mir. Mit allen anderen, aber nicht mit mir .!
Oberfeldwebel Krüll sah auf, als Schwanecke ohne anzuklopfen eintrat. Er lehnte sich zurück, verschränkte gelassen die Arme und nickte ein paarmal.
»Natürlich, wer denn sonst. Der Mann ohne Kinderstube. Der beinahe perfekte Sittlichkeitsverbrecher und Räuber!«
»Lassen Sie man das >beinahe< weg«, grinste Schwanecke.
»Und Mörder? Wie wär’s mit dem >beinahe perfekten Mör-der<?«
Schwanecke kniff die Augen zusammen. Sein Gesicht verzog sich zu einer häßlichen Grimasse. Heiße Wut zuckte in ihm empor und überspülte für einen Moment seine lauernde, fast immer wache Vernunft.
»Sie kommen auch noch dran!« zischte er. Krüll fuhr auf.
»Was heißt - auch?« schrie er.
»Auch - heißt, daß Sie drankommen, wie wir alle drankommen werden«, sagte Schwanecke, wieder vorsichtig geworden.
»Auch - das kann mehr heißen! Halt mich nicht für dumm!«
Krülls Stimme war plötzlich heiser. Er hatte Angst vor dem klobigen Mann, der mächtig und ungebändigt vor ihm stand und ihn aus seinen kalten Fischaugen anstarrte.
»Kann es«, sagte Schwanecke ungerührt.
Krüll fühlte, wie über seinen Körper ein langes Zittern lief, wie sich seine Wut auf einmal entladen wollte.
»Ich weise es dir nach, mein Junge ... ich weise es dir nach, darauf kannst du Gift nehmen.« Sein dicker Kopf pendelte hin und her, wie immer, wenn er scharf nachdenken oder irgend etwas überlegen mußte. »Und wenn sie dir die Rübe abhacken, ziehe ich meine Sonntagsuniform an und saufe mich voll!«
Schwanecke gab keine Antwort. Doch er konnte es nicht unterlassen, in die Ecke des Raumes zu spucken, bevor er die Schreibstube verließ ...
Eine Stunde später trat Stabsarzt Dr. Bergen in das Haus, wo Obermeier seinen »Gefechtsstand« eingerichtet hatte. »Wenigstens für acht Tage haben wir jetzt Lazarettmaterial«, sagte er müde. »Ihr Deutschmann hat einiges organisiert. Nächste Woche soll er wieder nach Orscha gehen ... Die Heeresapotheke bekommt neues Material. Als ob etwas in der Luft liegt .«
»Mich wundert’s ja schon lange, daß der Iwan so still ist. Die Felder sind steinhart gefroren, es gibt nicht allzuviel Schnee ... die Russen können sich kein besseres Rollfeld für ihre Panzer wünschen. Ich glaube, es wird nicht mehr lange dauern, dann knallt es.«
»Malen Sie den Teufel nicht an die Wand, Obermeier!« Dr. Bergen setzte sich und trank schnell einen Schluck Schnaps, den ihm Obermeier im Deckel seines Kochgeschirres reichte. »Aber ich komme nicht deswegen ... wenn’s losgeht, werden wir es früh genug wissen. Ich bin zwar kein alter Frontsoldat, aber man müßte aus Holz sein, um nicht zu spüren, daß dies -eh - wie man so sagt, die Ruhe vor dem Sturm ist. Was ich sagen wollte ... Dr. Hansen hat da etwas entdeckt, was er mir erst heute gesagt hat. Er hat darüber ein Protokoll angefertigt ... es geht um Bevern. Aber lesen Sie selbst, bitte.« Er reichte Obermeier einige Blätter Papier und trank noch einen Schluck Schnaps.
»Daß ihr Ärzte auch kein Deutsch schreiben könnt«, sagte Obermeier nach einer Weile seufzend.
»Also ich will’s Ihnen erklären: An der Leiche von Oberleutnant Bevern wurde neben dem Einschuß im Kopf noch eine Schwellung am Kinn und, was wichtiger ist, eine am Kehlkopf seitlich, mit einem kleinen Bluterguß, festgestellt. Das bedeutet, daß diese Schwellungen schon da waren, bevor Bevern durch den Kopfschuß getötet wurde. Können Sie sich das erklären?«
»Was meinen Sie damit?«
»Passen Sie auf: Es ist möglich, daß Bevern bei seinem Inspektionsgang durch die Gräben ausgerutscht und hingefallen ist. Das könnte die Schwellung am Kinn erklären. Oder glauben Sie, daß er etwa in eine Schlägerei verwickelt war?«
»Kaum anzunehmen«, sagte Obermeier.
»Also, das wäre die Schwellung am Kinn. Aber wie erklären Sie sich die Schwellung und den Bluterguß am Hals? Diese können durch keinen Sturz entstehen. Ich war eine Zeitlang -es ist schon lange Jahre her - Polizeiarzt. Solche Schwellungen am Hals entstehen nur, wenn man mit einem stumpfen Gegenstand dagegenschlägt. Etwa mit einem dicken Stock oder ...« Dr. Bergen schlug mit gestreckter Hand durch die Luft.
»Sie meinen - Handkantenschlag?« fragte Obermeier fas-sungslos.
»Kann sein ...« Dr. Bergen zuckte mit den Schultern. »Solche Schläge können, wenn sie mit großer Wucht ausgeführt werden, tödlich sein.«
»Und Sie meinen .«
Dr. Bergen winkte ab. »Nein, nein. Beverns Tod ist eindeutig durch ein Infanteriegeschoß verursacht worden. Vorne ‘rein, hinten ‘raus - und Sie wissen ja, daß die modernen Infanteriegeschosse mit ihrer Rasanz bei Kopfdurchschüssen verheerende Wirkungen haben können. Und das ist bei Bevern geschehen. Aber - und das ist, worüber Sie sich Gedanken machen müssen: Der Schlag gegen Beverns Kehlkopf genügte, um ihn bewußtlos zu machen. Und das muß kurz vor dem Tode gewesen sein. Ich bin kein Detektiv - und Sie wahrscheinlich auch nicht. Aber Sie sind der Kompaniechef. Bei Ihnen ist das passiert .«