Schweigen.
Nach einer Weile sagte Obermeier langsam und schwer: »Wenn ich Sie recht verstanden habe, hat irgend jemand - wir wollen jetzt keinen Namen nennen - Bevern niedergeschlagen und ihn dann erschossen.«
Dr. Bergen trank wieder. »Hansen hat festgestellt, daß der Schuß nicht aus unmittelbarer Nähe abgefeuert wurde. Sie wissen ja, wir Mediziner können das. Wahrscheinlich war’s doch ein russischer Scharfschütze. Ich möchte mich nicht festlegen ... aber das, was Sie vorher gesagt haben, dürfte meiner Meinung nach der Wahrheit ziemlich nahekommen.«
»Also sprechen wir es aus: Schwanecke - niemand anders kann es gewesen sein - hatte Bevern zuerst k. o. geschlagen, ihn mit einem Handkantschlag noch tiefer betäubt und am Ende erschossen - oder von einem russischen Scharfschützen erschießen lassen. So etwas kann man arrangieren - wenn man Bescheid weiß ...«
»Es war Bevern, aber .«
»Sie meinen - aber es wird mir nichts anderes übrigbleiben, als diesen Bericht an Hauptmann Barth weiterzugeben«, beendete Obermeier.
»So ist es.« Dr. Bergen trank den restlichen Schnaps aus. Auch wenn er widerlich schmeckte, war es doch ein Gesöff, das ihm half, das Ganze zu ertragen. Alles, was sich hier abspielte, war ungeheuerlich, zu ungeheuerlich, um es mit wachen Sinnen und klarem Verstand ertragen zu können. »Auch wenn Bevern ein Schwein war ... Mord bleibt Mord, ganz gleich, an wem er verübt wurde.«
»Ich werde gleich - ich werde nachher Schwanecke festnehmen lassen und ihn noch einmal verhören.«
Dr. Kukill hatte vergeblich versucht, Julia Deutschmann telefonisch zu erreichen. Da nach dem letzten Angriff britischer Bomberverbände die Leitungen zerstört waren, fuhr er hinaus nach Dahlem, getrieben von einer ihm bis dahin unbekannten Sorge und Ungewißheit, die sich immer mehr in Furcht wandelte, je länger er daran dachte, daß Julia den wahnwitzigen Plan ausführen könnte, Deutschmanns Versuche an sich selbst zu wiederholen.
Die Villa in Dahlem war verschlossen. Er schellte umsonst. Die Jalousien, durch Bombenabwürfe in der Umgebung zum Teil aus dem Rahmen gerissen, waren so weit heruntergelassen, wie es möglich war.
Dr. Kukill wartete eine Weile, dann öffnete er die kleine Vorgartentür und ging um das Haus herum. Nichts rührte sich. Das Haus sah grau, verlassen und leblos aus. Die Küchentür, die nach hinten in den Garten führte, war verschlossen. Julia war offensichtlich verreist. Doch merkwürdig - sie hatte ihm nie etwas davon gesagt. Aber dann sagte er sich, mit einer plötzlich aufkeimenden Bitterkeit, daß sie ihm, gerade ihm, sicher nie etwas sagen würde. Weder daß sie verreisen wollte noch irgend etwas anderes. Sie haßte ihn. Wie konnte er solch ein Narr gewesen sein, zu glauben, sie würde Deutschmann vergessen und seinen Wünschen entgegenkommen? Wohin konnte sie gegangen sein? Er wußte, daß sie keine Angehörigen mehr hatte. Ist vielleicht etwas mit Dr. Deutschmann vorgefallen? Vielleicht ist er in Rußland gefallen?
Dieser Gedanke, mit dem er in der letzten Zeit sehr oft gespielt hatte, war ihm nicht unangenehm. Und doch war da ein Unterschied zu früher, ein seltsames, bohrendes Gefühl der Unsicherheit - oder der Schuld? - wie er es früher nicht gekannt hatte. Früher war alles klar und einfach: Er begehrte Julia, er wollte sie haben, und er traute sich zu, sie zu gewinnen. Er mußte sie haben; ihr Widerstand reizte ihn nur und machte das Begehren oder das Besitzen zu einer fixen Idee. Er hatte bis jetzt alles bekommen, was er haben wollte. Warum sollte es mit Julia anders sein? Das schwierigste Hindernis war allerdings der lebende Dr. Deutschmann. Wenn er tot war, dann mußte ihm nach einer Weile des Trauerns Julia wie eine reife Frucht in den Schoß fallen. Was er dann mit ihr tun würde, wie es nachher weitergehen sollte, darüber macht er sich keine Gedanken.
Doch neuerdings war das alles nicht mehr so klar. Nach wie vor wollte er Julia für sich haben, aber anders als früher. Und er war nicht mehr ganz so sicher, ob er wirklich noch Deutschmanns Tod wünschte. Die Grenzen hatten sich verwischt, seine Empfindungen wurden seltsam kompliziert - ein Zustand, den er bislang nicht gekannt hatte. War das etwa -Liebe? Wenn es das war, dann war Liebe eine seltsame Angelegenheit ...
Bevor er wieder zu seinem Wagen ging, stand er noch eine ganze Weile im Garten und betrachtete das Haus. Irgend etwas in seiner Brust tat ihm weh, es stieg ihm in den Hals, es war fast ein physischer Schmerz. In diesen Augenblicken hätte er vielleicht seine ganze Karriere und alles das, was er war und was er vorstellte, darum gegeben, wenn die Tür plötzlich aufgegangen wäre und Julia mit ausgebreiteten Armen auf ihn zukommen würde. Aber die Tür blieb verschlossen, das Haus war still und verlassen. So ging er wieder weg und fuhr davon. Am nächsten Tag wollte er wiederkommen, und er wußte schon, daß er immer wiederkommen würde - bis er sie fand. Er wollte sie suchen, er mußte sie finden, und sei es nur, um mit ihr über Belanglosigkeiten zu sprechen oder in ihrer Nähe zu schweigen.
Hinter einer schief hängenden Jalousie, seitlich verborgen von der Gardine, sah ihm Julia aus dem Wohnzimmer nach.
Das war ein anderer Kukill als der, den sie bis dahin gekannt hatte. Nicht mehr der eiskalte, selbstsichere Gerichtsarzt, der gesuchte Sachverständige, ein Liebling der Partei und der Frauen. Jetzt erinnerte er sie an den Kukill, der sagte, seine Nächte seien lang und seine Träume selten schön. Und noch etwas anderes war da, das ihn umgab und das in seiner Haltung zu lesen war. Aber sie konnte es nicht ergründen, und nachdem er weggefahren war, wollte sie es auch nicht mehr. Sie zwang sich, nicht mehr an ihn zu denken, als sie sich hinter Ernsts Schreibtisch setzte. Dr. Kukill war einstweilen nebensächlich. Später, wenn der Selbstversuch gelungen war, mußte er die Revision des Verfahrens einleiten. Später - wenn alles gut ging.
Kapitel 10
Ein Berg von Kladden, Berichten über Versuchsreihen und eigenen Experimenten bedeckte die Tischplatte. Sie schob das Papier achtlos beiseite und begann auf ein großes Blatt zu schreiben:
»Mein Liebster!
Es wird ein kurzer Brief sein, denn es ist möglich, daß er der letzte ist. Man soll beim Abschied nicht zu viele Worte sagen, sie machen das Weggehen nur noch schwerer, und, was beinahe schlimmer ist - sie drohen, den Mut wegzunehmen, das bißchen Mut, den ich habe, um das zu tun, wovor mir bangt. Aber nein, ich will nicht so schwarzsehen. Ich glaube, ich bin ein bißchen übermüdet, und wenn man müde ist, dann erscheint einem Notwendiges sinnlos, Schweres noch schwerer.
Unlängst habe ich mich dabei ertappt, eitel zu sein. Fast mit Stolz habe ich daran gedacht, daß es doch eine Menge ist, was ich tue. Für Dich tue. Das kann, so sagte ich mir befriedigt, nur eine Frau tun, die fähig ist, sehr stark zu lieben. Ich kam mir wie eine kleine Heldin vor. Oder eine große? Du siehst, Liebster, selbst in diesen Situationen kann man sich von gewissen Eigenschaften und Schwächen, die uns mit auf den Lebensweg gegeben wurden, nicht befreien. Dann, etwas später, fragte ich mich, wie oft wohl Menschen aus Eitelkeit - gut waren, um sich selbst sagen zu können oder es von anderen zu hören, sie wären gut gewesen oder hätten eine gute Tat vollbracht. Ich fragte mich, wieviel von Eitelkeit oder sogar Selbstsucht in Menschen steckt, die - nennen wir es so - eine Heldentat vollbracht haben, die nach außen hin als völlige Aufgabe ihrer selbst und die Negation des angeborenen, notwendigen Egoismus oder des Selbsterhaltungstriebes erscheint? Dies und jenes ging und geht mir durch den Kopf ... Aber ich sagte ja, ich will nicht einen sehr langen Brief schreiben. Nur das noch: Wie die Zeit auch sei, in der ich leben muß, wie schwer es auch manchmal oder fast immer ist, ich habe viele neue Ansichten gewonnen und viele Einblicke. Ich bin eine andere geworden, doch nicht in dem Sinn, wie man so leichthin sagt: Du bist nicht mehr die alte. Was ich früher ahnte, weiß ich heute, und ich ahne jetzt, was mir früher ein Buch mit sieben Siegeln war. Das nennt man wohl - Entwicklung.