Wenn ich mit diesem Brief fertig bin, werde ich das Experiment wagen. Oh, Liebster, ich habe Angst! Vielleicht wird dieser Brief doch nicht so kurz werden - denn jede Zeile, jedes Wort, das ich schreibe, ist ein kleiner Aufschub.
Das alles wirst Du wahrscheinlich nie erfahren. Zumindest wirst Du es nicht wissen, wenn der Versuch mißlingt. Wenn es schiefgehen sollte, werde ich nicht mehr sein, um es Dir zu erzählen. Aber auch wenn ich am Leben bleibe, so glaube ich nicht, daß Du je heimkommen würdest, denn dieser Krieg wird noch lange dauern, und er verschlingt Menschen wie eine ewig hungrige, riesenhafte Bestie - und sicher vor allem Menschen, die verurteilt sind, in Einheiten wie dem Strafbataillon zu leben. Wir werden dann zwei von den Millionen Opfern des Krieges sein, zwei Namenlose, deren Schicksal niemand aufrütteln wird, denn es wird untergehen in vielen, vielen anderen Schicksalen, die nicht minder schwer sind. Übrigbleiben wird der geschichtliche Begriff: Krieg. Übrigbleiben wird dieses schreckliche Wort, dessen Tragweite niemand ermessen kann, der nicht gerade zu der Zeit gelebt hatte, als er wütete, und alle anonymen, tausendfachen Schicksale werden in diesem Sammelbegriff verschwinden.
In wenigen Minuten ist es soweit. Und in zehn oder zwölf Stunden werde ich wissen, ob wir recht hatten mit unserem Aktinstoff oder ob wir uns getäuscht haben. Ich verspreche Dir, tapfer zu sein ... ich werde es versuchen. Auf alle Fälle aber laß mich Abschied nehmen von Dir. Ich versuche zu lächeln, während ich das schreibe, nicht zu weinen. Ich versuche an die unzähligen schönen, glückhaften Stunden zu denken, die wir zusammen verlebt haben, und nicht an das Bittere, das danach kam. Wenn ich Lebewohl sage, dann will ich zugleich sagen: Ich habe ein erfülltes Leben hinter mir, obwohl es so kurz war.
Und ich will daran glauben, daß wir uns wiedersehen werden, daß wir beide jetzt nur durch eine tiefe, lange Nacht gehen, hinter der ein Morgen kommen muß. Ich küsse Dich in
Gedanken, wie damals, als Du mir sagtest: Gott hat die Welt erschaffen, damit es auch dich gibt. Damals war ich Dir dankbar für diese Worte, aber nicht so wie heute. Heute würde ich auch Dir dasselbe sagen.
Deine Julia.«
Sie legte den Brief, ohne ihn noch einmal zu überlesen, zu den anderen nicht abgeschickten Briefen, klappte die Ledermappe zu, in der sie die Schreiben aufbewahrte, und steckte sie in einen Koffer, den sie sorgfältig verschloß. Dann ging sie ins Labor und trat zu einem hölzernen Ständer, auf dem zwei kleine Phiolen mit leicht trüber Flüssigkeit standen.
Ohne mit der Hand zu zittern, zog sie zwei Spritzen mit der Flüssigkeit auf. Ihre Bewegungen waren knapp und ruhig.
Es war 11.17 Uhr vormittags.
Sie klappte eine Kladde auf und trug die Zeit mit dem Datum als Kopf des Berichtes ein, den sie über sich selbst schreiben wollte.
Sie schrieb:
11.19 Uhr. Erste Injektion mit 2 ccm Staphylokokkus aureus intramuskulär, in den musculus vastus lateralis.
Sie hatte die Einstichstelle am Oberschenkel vorher mit Alkohol gereinigt. Hinterher mußte sie darüber lächeln. Wie selbstverständlich waren ihr die einzelnen Handgriffe geworden! Sie reinigte die Einstichstelle, in die sie Eiter injizieren wollte! Über diese Widersinnigkeit lächelte sie noch, als sie mit der dünnen Hohlnadel in den Muskel stach, die Flüssigkeit schnell in das Fleisch drückte und die Nadel wieder mit einem Ruck herauszog.
Die zweite Spritze injizierte sie sich in den Unterarm. Anschließend trug sie in die Kladde ein:
11.22 Uhr: Injektion Nr. 2 in den musculus flexor digitorum profundus. Ich unterbreche hier den Versuch und warte die
Wirkung ab.
Sie stellte den Wecker auf 21.00 Uhr und legte sich auf das alte Ledersofa. Hier hatte Ernst oft gegen Morgen, erschöpft von der durchwachten Nacht, ein oder zwei Stunden geschlafen. Die Vorhänge vor den beiden Fenstern waren zugezogen, es herrschte eine fahle Dämmerung, in der alle Gegenstände um sie unwirklich wurden. Neben dem Sofa stand auf einem Tischchen das Telefon. Daneben lag ein Zettel mit den Rufnummern Dr. Wisseks in der Charite und in seiner Wohnung.
Sie hatte versucht, an alles zu denken, bevor sie mit dem Experiment begann. Ihre Notizen wiesen auch die geringste Einzelheit auf. Kühl und überlegt ordnete sie, was zu ordnen war, wie ein alter, müder und über seinen Tod hinaus korrekter Mann, der mit seinem Leben abschloß, weil er das nahende Ende fühlte. Sie hatte sogar einen Brief an Dr. Kukill geschrieben, der - ohne daß sie es wollte - mit den bitteren Worten begann: »Wären Sie als gerichtlicher Sachverständiger mehr Ihrem Gewissen oder auch Ihrer Einsicht gefolgt und nicht den Vorurteilen des sogenannten >Gebotes der Stundec, dann wäre es nie so weit gekommen, daß Sie diesen Brief lesen müssen ...«
Es war vollbracht. Ruhig, als habe sie eine leichte Dosis Schlafmittel genommen, lag sie auf dem alten Ledersofa. Ihr Gesicht war sehr bleich und ihre Augen geschlossen. Sie dachte an Ernst. Sie dachte an den grausamen russischen Winter, von dem sie so viel gehört hatte. Ob er wohl einen Mantel hatte? Ob er wohl ihr Päckchen bekommen hatte mit den dicken Wollhandschuhen, Socken und Schal und dem Kuchen und zwei Schachteln Zigaretten und anderen Kleinigkeiten? Ob er Filzstiefel besaß? Oder sogar Pelzstiefel? Es waren kleine, vorbeifließende, zärtliche Gedanken einer Frau, die sich Sorgen um ihren Mann machte oder einer Mutter um ihren Sohn.
Am frühen Nachmittag - sie sah auf die Uhr: 14.16 - hörte sie, wie ein Wagen draußen vorfuhr. Am Motorengeräusch erkannte sie, daß es Dr. Kukills Auto war. Eine Weile war es still, dann gingen leise, über den Kies knirschende Schritte um das Haus. Dann klingelte es an der Eingangstür zweimal -dreimal - fünfmal. Einen Augenblick lang mußte sie mit aller Macht gegen den Wunsch ankämpfen, aufzustehen, zur Tür zu laufen, aufzuschließen und ihm alles zu erzählen, um Hilfe zu bitten, bevor es zu spät war. Doch sie blieb liegen, preßte die Hände gegen die Ohren und drehte den Kopf zur Wand. Und wieder nach einer langen Weile hörte sie, nun kaum vernehmbar, den Motor des Wagens anspringen. Dann entfernte sich das Geräusch schnell und erstarb.
Dr. Kukill war wieder fortgefahren.
Die Ruhe des leeren Hauses, die Dämmerung des Labors schläferten Julia ein. Sie schreckte hoch, als neben ihrem Kopf das Telefon schrill klingelte. Aber sie hob den Hörer nicht ab. Es war sicher wieder Dr. Kukill, und sie wollte ihn nicht sprechen.
18.47 Uhr: Sie sah auf die Einstichstellen. Um die am Oberschenkel hatte sich ein kleiner roter Kreis gebildet. Am Unterarm zeigten sich keinerlei Symptome. Sie trug diese Beobachtungen gewissenhaft in die Kladde ein, maß ihre Temperatur und stellte am Oberschenkel eine leichte Druckempfindlichkeit fest.
Gegen 20.30 Uhr rief sie Dr. Wissek in der Charite an, noch bevor der Wecker zu klingeln begann, getrieben von einer starken Unruhe, der sie nicht Herr werden konnte und die ihr das Gefühl gab, als bekäme sie zu wenig Luft.
»Tag, Mädchen, wie geht’s? Was kann ich für dich tun?« hörte sie die Stimme des Freundes wie durch das Rauschen einer Brandung. Sie fühlte ihre Stirn und zuckte zurück. Die Haut war glühend heiß und feucht.
»Und du, wie geht es dir?« fragte sie mit Mühe. »Hast du viel zu tun?« »Wie immer. Der Operationssaal ist beinahe mein Schlafzimmer geworden.«
»Ich habe eine Bitte, Franzl .«
»Schieß los. Schon erfüllt!«
»Ich brauche ein Bett.«
»Hier in der Charite? Ausgeschlossen! Aber Julchen - wie stellst du dir das vor?« versuchte Dr. Wissek seine schroffe Absage zu mildern. »Wir haben die Patienten schon im Luftschutzkeller übereinander liegen. Hast du etwa auch -Privatpatienten?«
»Nein, ich brauche das Bett dringend, sonst würde ich nicht anrufen.«
»Um was handelt es sich denn?«
»Staphylokokkus aureus. Infektion. Unterarm und Oberschenkel«, sprach Julia langsam, schwer atmend.