Gegen 23 Uhr erschien Dr. Kukill wieder vor der Villa Dr. Deutschmanns in Dahlem. Seitdem er einige Male versucht hatte, Julia telefonisch zu erreichen, konnte er es nicht mehr aushallen. Einige Sätze und hingeworfene Worte Julias fielen ihm wieder ein, Worte, die er damals, als sie gesprochen wurden, nicht besonders ernst genommen hatte, die aber jetzt einen unheimlichen, bedeutungsschweren Sinn erhielten:
»Von meinem Selbstversuch wird niemand etwas erfahren, bis es soweit ist«, sagte Julia einmal.
Oder: »Auch Sie werden mich nicht zurückhalten können.« Oder: »Ich werde allen beweisen, daß man Ernst unrecht getan hatte.«
Diesmal begnügte sich Dr. Kukill jedoch nicht damit, um das Haus herumzugehen und in die Fenster zu sehen, ob er irgendwo einen Lichtschein bemerkte, das Bewegen einer Gardine, ein Geräusch wahrnahm, das ihm verraten würde, daß Julia zu Hause war. Er rannte sogleich auf die Rückseite des Hauses, klopfte einige Male gegen die Küchentür und drückte schließlich das Fenster ein.
Die Küche war peinlich genau aufgeräumt. Nur auf dem Herd stand ein Topf voll Bohnensuppe.
»Julia!« rief Dr. Kukill. »Julia - wo sind Sie? Warum verstecken Sie sich vor mir?«
Keine Antwort. Seine Stimme hallte durch das stille Haus, und Dr. Kukill wußte plötzlich, daß er umsonst rief. Das Haus war leer. Er rannte weiter - durch die Diele - in das Wohnzimmer - in das Arbeitszimmer.
Als er die schwere Tür des Labors aufriß, blieb er wie festgenagelt stehen. In dem großen, sorgfältig verdunkelten Raum brannten alle Lampen. Auf dem Ledersofa in der Ecke lag eine zusammengeknüllte Decke. Das Telefon stand auf einem Beistelltisch neben dem Sofa und neben dem Telefon ein weißes Viereck: ein Brief.
Langsam, wie unter einem Zwang ging er hin. Der Brief war an ihn adressiert. Sein Blick blieb an einem Zettel hängen, der halb unter das Telefon geschoben war: Dr. Franz Wissek, Charite, und dann die Nummer. Ohne den Blick von dem Zettel zu lösen, riß er das Kuvert auf.
Dann las er:
»Wären Sie als gerichtlicher Sachverständiger mehr Ihrem Gewissen oder auch Ihrer Einsicht gefolgt und nicht den Vorurteilen des sogenannten >Gebotes der Stundec, dann wäre es nie soweit gekommen, daß Sie diesen Brief lesen müssen.
Ich werde den Selbstversuch unternehmen. Und wenn Sie diese Zeilen lesen, werde ich entweder nicht mehr am Leben sein oder - den Beweis erbracht haben, daß die Verurteilung meines Mannes ein Irrtum war.
Vermuten Sie in mir keine Heldin. Ich habe entsetzliche Angst. Aber es ist der einzige Weg, Ernst zu rehabilitieren und das Werk fortzusetzen, von dem er überzeugt war und an das auch ich glaube ...«
Er zwang sich, den Brief Zeile für Zeile, Wort für Wort durchzulesen. Und gerade, weil Julia nicht anklagte, sondern kühl und sachlich mitteilte, empfand er seine Schuld um so tiefer. Es stimmte genau, was Julia im ersten Satz schrieb. Doch - wo war sie jetzt?
Vielleicht half ihm der Zettel mit der Telefonnummer weiter? Charite - natürlich! Sie wird dort irgend jemanden, nein -diesen Dr. Wissek angerufen haben ... sicher war sie jetzt dort
Es war, als hätte eine Welle fieberhaften Lebens Dr. Kukill erfaßt und ihn emporgehoben. Seine Hände zitterten, als er den Telefonhörer von der Gabel riß und die Nummer wählte, die auf dem Zettel angegeben war.
Es dauerte eine ganze Weile, bis er die Verbindung bekam.
Kukill trommelte mit den Fingern nervös auf die Tischplatte, und dann hörte er Schritte, die näherkamen, und eine männliche Stimme:
»Dr. Wissek.«
»Ist Julia - Frau Julia Deutschmann bei Ihnen?« Dr. Kukill zwang sich mit aller Macht zur Ruhe.
»Wer spricht dort?«
»Kukill - Dr. Kukill - antworten Sie mir, Mann! Ist Frau Julia bei Ihnen?«
»Ja. Warum wollen Sie denn das wissen?«
»Herrgott - fragen Sie nicht - was ist los?«
»Es sieht schlecht aus ... eine allgemeine Infektion .«
»Schlecht?«
»Sehr.«
Es war Dr. Wissek, als höre er ein leises, unterdrücktes Schluchzen. Aber das war völlig unmöglich, er mußte sich getäuscht haben. Der junge Arzt kannte Dr. Kukill - wer kannte ihn nicht? -, und es schien ihm unvorstellbar, daß Dr. Kukill weinen könnte. Es war völlig absurd, und doch ...
»Ich komme sofort!« hörte Dr. Wissek nach einer Weile Kukill sagen. Und dann, wie der Hörer am anderen Ende aufgelegt wurde. Einige Sekunden stand er noch ratlos da, schüttelte den Kopf, legte selbst auf und sagte zur Telefonistin: »Wenn mich nicht alles täuscht, hat es jetzt jemanden schwer erwischt!«
In einem abseits liegenden kleinen Zimmer lag Julia und rang mit dem Tode. Verzweifelt und hilflos standen die Ärzte um ihr Bett und sahen zu, wie Professor Dr. Burger, den Dr. Wissek aus dem Bett geholt hatte, die dritte Injektion mit dem von Dr. Deutschmann entwickelten Aktinstoff machte. Er injizierte das Serum in die Armvene, damit es schneller wirken sollte.
Julia lag im Koma. Ihre Haut war fahl, blaß, mit kaltem Schweiß überzogen, ihre Fingerkuppen waren weißlich, und die Nase stach erschreckend hart aus dem verfallenen Gesicht.
»Ich weiß nicht, ob es viel Sinn hat«, sagte Professor Dr. Burger, als er die Spritze leergedrückt hatte. »Bei einer solch irrsinnigen Infektion versagen alle konventionellen Mittel. Und an diesen Aktinstoff glaube ich nicht. Ich habe mir abgewöhnt, an Märchen zu glauben.«
Dr. Wissek nickte. Dann sagte er unvermittelt: »Dr. Kukill hat angerufen, daß er hierherkommen will.«
»Was will denn der hier?« Professor Burger sah überrascht auf. Seine hellen Augen im faltigen Gesicht unter dem schlohweißen Haar waren müde.
Dr. Wissek erwiderte: »Er war sehr aufgeregt ...«
»Ach so, ach so. Nun - das kann ich mir ja denken ... schließlich hat er ja ... Sie kennen doch die Geschichte?«
»Es war eine Schweinerei«, sagte Dr. Wissek hart.
Professor Burger antwortete nicht. Er schob Julias Lider hoch und sah auf die Augäpfel. Sie waren starr, gläsern.
»Hat sie Cardiazol bekommen?«
»Ja.«
Der Professor stand auf. »Sie sind ja hier, bleiben Sie bei ihr. Wenn irgend etwas geschehen sollte, rufen Sie mich.«
Dr. Wissek nickte. Er konnte jetzt nichts sagen. In seinem Hals saß ein Kloß, er fürchtete sich, zu sprechen.
»Ich möchte nicht diesen - diesen Kukill sehen«, sagte Professor Burger und ging dann wortlos hinaus.
Dr. Wissek zog einen Stuhl zum Bett und setzte sich hin. Seine straffe, jugendliche Gestalt sank in sich zusammen. Er hatte den ganzen Tag gearbeitet. Mechanisch griff er nach Julias Arm
und fühlte den Puls.
So fand ihn Dr. Kukill.
Es war ein anderer Dr. Kukill, dieser Mann, der ins Zimmer gestürmt kam, mit wirren Haaren, ohne Mantel, mit einem heruntergerutschten Schlips und schweißnassem Gesicht, als derjenige, den Dr. Wissek in Erinnerung hatte: von einigen Gesellschaften her, Empfängen, zuletzt vom Prozeß gegen Ernst. Er war um Jahre gealtert, und seine kühle und spöttische Selbstsicherheit schienen verpufft. Ohne sich um Wissek zu kümmern, kniete er vor Julias Bett nieder.
»Warum hat sie das bloß getan?« fragte er heiser, und Dr. Wissek hatte den Eindruck, daß er ihn nicht fragte, sondern sich selbst oder einfach fragte, wie schon so viele vor ihm, denen gesagt werden mußte, daß ein Mensch, den sie liebten, gestorben sei: Warum? Warum mußte das geschehen?
»Guten Abend, Kollege Kukill«, sagte Dr. Wissek leise. In seiner Stimme schwang bitterer Sarkasmus.
»Was?« Kukill sah verständnislos zu ihm auf und blickte dann wieder auf Julia. »Wieviel Aktinstoff haben Sie injiziert?«
»Zweimal 5 ccm.«
»Mein Gott - ist das nicht zuviel?«
»Was kann hier noch passieren?« sagte Dr. Wissek.
»Und sonst? Haben Sie sonst nichts unternommen? Sulfonamide?«
»Wir haben alles getan.«