Dr. Kukill prüfte Julias Puls, zog - genauso wie Professor Burger vor ihm - ihre Lider hoch, blieb noch eine Weile knien, stand dann langsam, sich auf das Bett stützend, auf. »Und Sie meinen?« fragte er dann, ohne den Blick von Julias Gesicht zu wenden. Er erwartete keine Antwort, denn er wußte selbst: Hier schien nichts mehr zu helfen. Dann drehte er sich um und ging langsam hinaus, als ob er sich zu jedem Schritt zwingen mußte.
Dr. Wissek sah hinter ihm her und fühlte jetzt keinen Zorn mehr gegen diesen Mann.
In Barssdowka war der Teufel los.
Nicht allein, daß Oberfeldwebel Krüll mit seinem Hinternschuß Mittelpunkt des Feldlazaretts wurde, mit Kronenberg erregte Diskussionen beim Verbandwechseln führte und sich auch sonst bemerkbar machte, auch Schwanecke sorgte für Abwechslung.
Das zweite und das dritte Verhör durch Oberleutnant Obermeier waren genauso ergebnislos verlaufen wie das erste. Schwanecke leugnete, irgend etwas mit Beverns Tod zu tun zu haben. Er machte es sehr geschickt und überzeugte Obermeier beinahe, daß alle Verdächtigungen gegen ihn gegenstandslos seien. So sagte er zum Beispieclass="underline" »Klar, ich hab’ manchmal daran gedacht, den Herrn Oberleutnant ... Sie verstehen schon. Aber welcher Rekrut tut das nicht?
Und sagen Sie mir, Herr Oberleutnant, welcher Landser hat solche Gedanken nicht, wenn ein Vorgesetzter ... na ja, Sie wissen schon! Aber das zu tun? Um Gottes willen! Und Sie sagen selbst, das Ganze soll sehr gut vorbereitet gewesen sein. Ach, du liebe Zeit, und wann hätt’ ich die Zeit, das vorzubereiten? Zuerst lag ich hier im Lazarett, und dann mußte ich Wache schieben ... wie sollte ich wissen, wann Herr Oberleutnant zur Inspektion und daß er ausgerechnet zu mir kommen würde? Es war genau, wie ich es erzählt habe. Ich sagte: >Da drüben sind Scharfschützen, da muß man aufpassenc. Und der Herr Oberleutnant sagte: >Haben Sie etwa Angst, Sie Scheißkerl?< Und guckte ‘rüber, und da hat’s schon geknallt. Genauso war’s!«
Obermeier gab das Protokoll der Verhöre mit dem Bericht Dr. Hansens an Hauptmann Barth weiter und sprach selbst mit ihm über das Telefon, das ausnahmsweise einmal intakt war.
»Es sind doch alles Vermutungen ...«, sagte Barth. »Sie können dem Kerl ja nichts beweisen. Niemand hat irgend etwas gesehen ...«
»Was soll ich mit ihm machen? Festsetzen?«
»Nein, warum?«
»Er könnte immerhin .«
»Sie meinen - fliehen? Wohin soll er gehen? Zu den Partisanen? Er weiß ganz genau, daß die keine Gefangenen machen. Und über die HKL wird er kaum kommen. Nein, nein, halten Sie ihn in greifbarer Nähe. Irgendwo beim Stab, er ist ja recht brauchbar. Und lassen Sie ihn nicht fühlen, daß Sie weiterhin Verdacht gegen ihn haben, damit er nicht kopfscheu wird. Ach
- was ich noch fragen wollte ... warum bemühen Sie sich eigentlich so sehr um die Aufklärung des angeblichen Mordes? Wenn ich mich nicht irre, mochten Sie Bevern nie so recht.«
»Es geht ums Prinzip, Herr Hauptmann.«
»Mein lieber Junge, Sie werden an einem Ihrer Prinzipien noch einmal ersticken. Lassen Sie sich das gesagt sein von einem, der es wissen muß .«
So kam es, daß Schwanecke in Barssdowka blieb und beim Stab Dienst machte. Doch allen, die ihn von früher her kannten, fiel sein verändertes Wesen auf. Er war noch mürrischer und verschlossener geworden, und seine Antworten auf neugierige Fragen bestanden meist aus Flüchen. Er schien keine Ruhe zu finden und gönnte sich kaum Schlaf. Wie ein gefangenes Raubtier strich er, wenn er nur konnte, um Barssdowka herum. Er wanderte ruhelos durch den Schnee, die Straße nach Babinitschi hinab, die Straße nach Gorki oder nach Orscha ...
Er suchte Tartuchin.
Über Bevern machte er sich keine Gedanken. Die Sache war für ihn erledigt. Für ihn - aber nicht für die anderen. Und er wußte nicht, daß zwischen Orscha und dem Stammlager in
Posen, zwischen Posen und Frankfurt/Oder und wieder zurück Schriftstücke, Meldungen und Telefongespräche gewechselt wurden, die sich mit ihm befaßten, mit ihm und Oberleutnant Bevern. Man hatte zwar keine Beweise für Schwaneckes Schuld, aber man kannte sein Vorleben. Und selbst wenn sein Vorleben weiß wie neugefallener Schnee gewesen wäre, so war er verdächtig. Und verdächtig sein konnte zu jener Zeit nicht nur den Soldaten eines Bewährungsbataillons den Kopf kosten.
Für Deutschmann kam wieder der Tag, an dem er von Stabsarzt Dr. Bergen nach Orscha geschickt wurde.
»Sie kennen ja diesen Apotheker«, sagte der Arzt, als er Deutschmann eine lange Liste in die Hand drückte. »Wenn Sie nur ein Viertel von diesem Zeug mitbringen, das ich hier aufgeschrieben habe, dann sind wir glücklich.«
Je näher der Schlitten Orscha und dem Dnjepr kam, um so unruhiger wurde Deutschmann. Er wußte, daß er Zeit genug haben würde, Tanja wiederzusehen. Er würde sie im Schlaf überraschen, wie das letztemal ... er würde neben ihrem Lager knien und ihren Kopf zwischen seine Hände nehmen, und dann würde er wieder jenseits der Vergangenheit und der Gegenwart sein, auch jenseits jeglicher Erinnerung: An Julia, an Berlin, an Dr. Ernst Deutschmann aus Dahlem, an das Leben, aus dem man ihn herausgerissen hatte. Er würde weiter nichts sein als der Landser Deutschmann, ein Schütze der 2. Kompanie des Strafbataillons, der Hilfssani, der Verbände, Morphium, Car-diazol, Tetanusserum und Evipan holen mußte. Weiter nichts: Eine Nummer in einer Wehrstammrolle, ein Name wie alle anderen Namen. Und: Ein glücklicher Mann. Ein Mann ohne Reue und ohne Gewissensbisse und in den Augenblicken des Vergessens ohne den Gedanken, daß er Verrat an einer anderen Frau übte - einer Frau, die so weit weg von seinem jetzigen Leben war, so unerreichbar, daß sie ihm wie ein schönes Bild erschien, das er einmal vor langer Zeit betrachtete, bewundert und besessen hatte.
An der hölzernen Dnjeprbrücke kontrollierten Feldgendarmen die Urlaubsscheine und Marschbefehle.
Während die Gespräche und die vielfältigen Geräusche an seine Ohren plätscherten, sah Deutschmann hinab auf die kleine Hütte am Dnjeprufer. Dort hatte sich nichts verändert. Die Holzstapel waren noch da, die Stalltür hing schief in ihrer Angel, ein schmaler schmutzig-weißer Pfad zog sich durch den Schnee zur verschlossenen Bohlentür ...
Die Ausgabe des Sanitätsmaterials ging schneller vonstatten als das letztemal. Der Apotheker war nicht da, und ein stiller, freundlicher Sanitäter holte zusammen, was Deutschmann verlangte. Er bekam zwar nicht alles, aber es war mehr als ein Viertel ... Er konnte sich das zufriedene Gesicht Dr. Bergens genau vorstellen. Doch alles dies, die Stadt, die von Soldaten wimmelte, der freundliche, hilfsbereite Sanitäter, seine eigene Zufriedenheit über den gut erfüllten Auftrag, all dies berührte ihn nicht, als ginge es ihn nichts an. Alle seine Gedanken und sein Sehnen waren in der kleinen Hütte am Dnjepr.
Die Nacht war sehr dunkel. Deutschmann tastete sich den Hang hinunter und öffnete leise die Tür zu Tanjas Kate, nur so weit, daß er hineinschlüpfen konnte.
Als er in der warmen Dunkelheit des Raumes stand, war es ihm, als habe er eine neue Welt betreten, die allein ihm gehörte, eine Welt ohne Krüll, ohne Schwanecke, ohne Obermeier, ohne Dr. Bergen, ohne Krieg ... Es war seine Welt, und sie war zugleich sein Traum und sein Vergessen.
»Es wird kein Ende nehmen ...«, sagte Tanja gegen Morgen.
»Was?«
»Das Glück.«
»Wir müssen daran glauben. Dann wird es vielleicht bleiben.«
»Es ist schwer, immer zu glauben.«
»Dann kannst du es nicht zurückhalten, Tanja.«
»Ich würde sterben, Michael. Aber trotzdem - nur der Tod kann mein Glück beenden.«
»Es ist Krieg, Tanjascha.«
»Kann man den Krieg nicht besiegen - durch Liebe?«
»Nicht wir beide allein. Ich fürchte ...«
»Was?« Sie hob den Kopf ein wenig und blickte ihn an. Er starrte gegen die Decke. Sein Gesicht war kantig, schmal, fremd. »Du darfst nicht wieder weggehen, Michael«, sagte sie beschwörend, »du darfst nicht!«