»Ich werde es wohl müssen.«
»Wann?«
»Wie kann ich das wissen? Das weiß nur Gott allein.«
»Glaubst du an Gott?«
»Ja. Und du?«
»Ich bin bei den Komsomolzen groß geworden, verstehst du? Ich habe gelernt, daß es keinen Gott gibt, nur Stalin und Lenin, die Partei und den Sozialismus. Meine Mutter ... ich kann mich erinnern, sie sprach oft von Gott. Meine gute, arme Mamuschka, sie ist gestorben, als ich noch ein ganz kleines Mädchen war.«
»Und dein Vater?«
»Er wurde verschleppt. Ich weiß nicht wohin, ich habe nie mehr von ihm gehört. Und ich kam in ein Komsomolzenheim.« Jetzt sah sie gegen das verhangene, gegen die Kälte mit Papier an den Seiten verklebte Fenster. Der Morgen dämmerte ... der schreckliche Morgen mit dem letzten Kuß und mit dem schrecklichen Wort »Auf Wiedersehen«.
»Woran denkst du?« fragte er und zog ihren Kopf wieder zu sich herab.
»Warum bleibst du nicht bei mir?«
»Ich kann nicht.«
Vor der Hütte, am Ufer des Dnjeprs, fingen Motoren an zu dröhnen. Über die Holzbrücke polterten die Lastwagen des Nachschubs. Stimmen schrien dünn und kaum hörbar durch den eisigen Morgen. Weiter oben zerbarst das Eis unter den Sprengladungen der Pioniere. Als Deutschmann aufstehen wollte, hielt sie ihn fest. Sie klammerte sich an ihn wie eine Ertrinkende.
»Bleib! Nur noch eine Stunde, eine einzige Stunde!«
»Es geht nicht. Ich muß weg.«
»Ich sehe dich nie wieder!« schrie sie grell. »Ich weiß es, ich weiß es ganz genau. Du bist gekommen, und du warst hier. Jetzt gehst du und wirst nie mehr wiederkommen. Ich liebe dich ... Du darfst nie gehen, du darfst nicht!«
Er nahm den Krug mit Krimwein, den Tanja am Abend, als er gekommen war, aus einem Versteck geholt hatte, und trank einen langen Schluck.
»Ich töte dich, wenn du gehst«, sagte Tanja leise.
Deutschmann schwieg.
»Du bleibst hier, Michael!« sagte sie, noch leiser geworden, während sie zum Ofen ging.
Er schüttelte den Kopf. »Sei doch vernünftig, Tanja. Wir müssen vernünftig sein.«
»Die Welt ist verrückt, sie zerreißt sich, geht unter, und du sagst - vernünftig sein! Immer - vernünftig. Du - Deutscher! Bleib doch hier. Du kannst später bei uns leben, ich werde dich jetzt verstecken, und wenn ihr ... wenn es keine deutschen Soldaten mehr hier gibt, werde ich hintreten und sagen: >Das ist Michael, Michael, den ich liebe.< Bleib hier!«
»Und deine Leute werden uns an die Wand stellen und erschießen, was?«
»Michael!«
Deutschmann sah zu ihr und erschrak. Sie hatte eine russische Pistole in der Hand und zielte auf ihn.
»Mach keine Dummheiten«, sagte er dumpf und fast ein we-nig überdrüssig.
»Ich töte dich, wenn du gehst!«
Er sah sie an und bemerkte in ihren Augen einen erschrek-kenden, kalten Funken, der ihren Willen, das Angedrohte auch wirklich zu tun, auszudrücken schien. Er beugte sich vor, als wollte er nach dem Stiefel greifen und stürzte sich dann überraschend auf sie, drückte sie gegen die Wand und preßte die Knöchel ihrer Hand, daß sie aufschrie und die Pistole zur Erde fallen ließ. Er trat die Waffe gegen die Tür und versuchte, sich gegen ihre Hände und Arme, die nach ihm schlugen, zu wehren.
»Hund«, schrie sie und hieb mit ihren Fäusten in sein Gesicht. »Oh - du Hund, du Hund ...! Ich hasse dich! Ich hasse dich, ich will dich töten ... töten!«
Doch plötzlich sank sie weinend in sich zusammen. »Bitte laß mich!« bat sie und warf sich auf das Bett. Deutschmann wußte nicht, was er tun sollte. Alles Trösten war hier umsonst. So stand er noch eine Weile da, trat dann zu ihr, strich ihr hilflos über die Schulter und ging. Bevor er die Hütte verließ, hob er die Pistole auf und legte sie auf den Tisch.
»Tanja!«
Sie antwortete nicht. Sie lag auf dem Bett, und ihr ganzer Körper zitterte. Aber sie weinte nicht mehr laut.
»Tanja!«
»Geh!« sagte sie müde.
»Du sollst wissen, daß ... ich liebe dich, du hast mir eine neue Welt gezeigt ... ich werde dich nie vergessen ...«
»Geh!«
»Ja, ich gehe schon. Und versteck das«, sagte er und sah auf die Pistole. »Wenn sie dich damit erwischen, dann erschießen sie dich.«
Sie antwortete nicht, und er wandte sich ab und verließ die Hütte. Die Tür zog er hinter sich zu wie einen Vorhang nach einem Stück, das man nur einmal spielen konnte; er würde es nie wieder sehen auf der Bühne des Lebens.
In der kleinen Hütte am Dnjeprufer lag Tanja wie ausgebrannt auf den Decken und vergrub ihr Gesicht in den Kissen -dorthin, wo sich noch die kleine Mulde von Deutschmanns Kopf abzeichnete.
»Michael«, wimmerte sie, »oh, Michael ... ich liebe dich ... ich hasse alle - alle .«
Kapitel 11
Berlin:
Draußen schneite es. Dicke, nasse Schneeflocken fielen aus dem dunklen Himmel und zerschmolzen auf den Steinen der Terrasse. Dr. Kukill stand am Fenster und starrte in den trostlos aussehenden, kahlen Garten, der in der langen grauen Morgendämmerung versank. Sein Raubvogelgesicht war bleich, eingefallen und ruhig. Seine Augen waren weit offen, aber sie sahen nicht in den Garten. Abwesend, seltsam leblos starrten sie vor sich hin, als konzentrierte sich der Mann auf einen unsichtbaren Punkt. Schließlich drehte er sich um, zog die schweren Vorhänge zu, ging fröstelnd zu seinem Schreibtisch, setzte sich und fing zu schreiben an:
»Sehr geehrter Herr Kollege Dr. Deutschmann!
Wenn Sie dieses Schreiben erhalten, ist es aller Wahrscheinlichkeit nach bereits zu spät. In Erfüllung einer Liebe, vor der man sich nur in Ehrfurcht beugen kann und die einem Menschen wie mir unverständlich und unfaßbar ist und, ich fürchte auch bleiben wird, hat Ihre Frau Julia an sich selbst den Versuch wiederholt, dessentwegen man Sie als Selbstverstümmler verurteilt hatte. Sie wollte beweisen, daß Sie recht gehabt hatten, und daß Ihr eigener Versuch nur mißlungen war, weil Ihr Gegenserum zu schwach wirkte. Allem Anschein nach hat sie sich mit einer zu großen Dosis des Staphylokokkus aureus infiziert; Professor Dr. Burger, Dr. Wissek und auch ich sind der Meinung, daß es für sie keine Rettung mehr gibt.
Damals, bei meinem Gerichtsgutachten, habe ich nach dem Stand der heutigen Medizin geurteilt und mich nicht auf das spekulative Gebiet der Möglichkeiten gewagt, weil das, was Sie an sich versuchten und was Ihre Frau gegen meinen Rat und trotz meines Widerstandes wiederholte, so phantastisch war, so unglaubwürdig, daß der nüchterne Verstand sich sträubte, es einzusehen. Jetzt allerdings ist mir klar, daß ich mich geirrt habe. Wir hatten Nachrichten aus England, nach denen es den dortigen Wissenschaftlern bereits gelungen ist, das zu vollbringen, was Sie versucht hatten. Aber das ist ja jetzt in dieser Stunde unwichtig. Ich weiß, wie schrecklich Sie diese Nachricht über Julia treffen muß, noch viel mehr, wo Sie selbst nichts tun können. Glauben Sie mir, ich empfinde mit Ihnen, ich weiß, was Sie mit ihr verlieren, denn auch ich - ich gestehe es - habe sie sehr achten und verehren gelernt.
Jetzt, da ihr Leben an ihrer großen Liebe zerbrochen ist, verspreche ich Ihnen, alles zu tun, was in meiner Macht steht, um Sie aus dem Strafbataillon herauszuholen. Ich weiß, daß Ihre Arbeit Ihr einziger Trost sein wird, und ich werde Sie dabei mit allen meinen Kräften unterstützen. Sie werden in ein paar Tagen von mir hören; ich bin überzeugt, daß es nicht allzu lange dauern wird, bis Sie wieder in Berlin eintreffen.
Ich gebe meinen Irrtum zu. Wie glücklich wäre ich doch, wenn dies auch Ihre Frau retten könnte!
Ich stehe immer in Ihrer Schuld.
Dr. A. Kukill«
Den Brief legte er sofort in den Umschlag, schrieb die Adresse und versiegelte ihn. Dann stand er auf, blieb einige Augenblicke nachdenklich stehen und ging dann hinaus.