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Noch am selben Vormittag trug er das Schreiben zum OKW in der Bendlerstraße. Seine weiten Verbindungen bewährten sich auch diesmaclass="underline" Der Brief ging als wichtige Dienstsache in Richtung Orscha.

Gegen Mittag rief Dr. Kukill wieder in der Charite an. Noch bleicher als zuvor und mit versteinertem Gesicht verlangte er Professor Dr. Burger.

»Wie geht es Julia?« fragte er knapp, ohne Umschweife.

»Ist Dr. Kukill dort?«

»Ja. Wie geht es Julia Deutschmann? Ist der Exitus ...«

»Nein, nein. Warten Sie, ich gebe Ihnen Dr. Wissek, er hat die ganze Nacht bei ihr gewacht.«

Dr. Kukill wartete. Und dann, nach endlos erscheinenden Minuten, meldete sich die müde, übernächtigte Stimme Dr. Wisseks.

»Wie geht es ihr?« fragte Kukill wieder.

»Etwas besser. Puls nicht mehr so flach. Die Atmung ist kräftiger. Wir geben Sauerstoff. Aber immer noch tiefes Koma ...«

»Atmung kräftiger?« Kukill mußte sich auf den Tisch aufstützen. Er fühlte plötzlich eine flaue Schwäche von seinen Beinen empor über den Körper kriechen. »Kräftiger«, wiederholte er, »es geht ihr besser?« Das letzte schrie er fast.

»Es läßt sich noch nichts Bestimmtes sagen. Aber es scheint, daß dieser Aktinstoff zu wirken begonnen hat. Wir haben noch einmal 5 ccm gespritzt .«

»So viel?«

»Wir müssen alles versuchen .«

»Ja, natürlich, natürlich ... wir müssen alles versuchen ... Warten Sie, ich komme hin, mein Gott, vielleicht ...«, stotterte Dr. Kukill sinnlos, legte den Hörer wieder auf und fuhr sich mit beiden Händen über das naßgewordene Gesicht. »Vielleicht«, murmelte er, »Julia ... wenn das stimmt ... ich hol’ ihn heraus, wenn das ... wenn das nur stimmt!«

Er hatte schon den Mantel angezogen, als ihm der Brief an Deutschmann einfiel. Für einen Moment blieb er unschlüssig -die Hand auf der Türklinke - stehen, überlegte - dann ging er mit großen Schritten zum Telefon und ließ sich mit dem Kurier-Offizier, dem er vormittags den Brief persönlich übergeben hatte, verbinden.

Die Blässe war aus seinem Gesicht verschwunden; seine gewohnten, energischen Züge kamen wieder zum Vorschein. In kurzen, abgehackten Sätzen forderte er den Brief wieder zurück.

Aber Dr. Kukill kam zu spät. Der Brief war schon seit einer halben Stunde mit der planmäßigen Kuriermaschine nach Orscha unterwegs ...

In Barssdowka ging ein Gerücht durch die Reihen der 2. Kompanie. Oberleutnant Obermeier war zu Hauptmann Barth nach Babinitschi befohlen worden.

»Es liegt eine Sauerei in der Luft«, sagte Wiedeck. »Beim Furier soll Schnaps angekommen sein. Das kenne ich ... wenn es Schnaps gibt, liegt Rabatz in der Luft.«

»In einer normalen Truppe - allerdings.« Bartlitz zerteilte sein Stück Brot in kleine Brocken, die er mit billiger Marmelade bestrich und einen nach dem andern aß. Bei ihm sah es aus, als diniere er das feinste Hors d’reuvre. »Sie glauben doch nicht im Ernst, daß wir hier Schnaps bekommen?«

»Warum nicht? Es geschehen noch Wunder«, sagte Deutschmann.

»Hat sich was, mit dem Wunder! Wunder gibt’s keine«, sagte Wiedeck. »Wenn wir Schnaps bekommen, dann kommt gleich danach ein Befehl ... du weißt schon, was ich meine. Ein Befehl, verstehst du, bei dem man besoffen sein muß, um ihn überhaupt durchzuführen. Himmelfahrtskommando. Ist doch so. Oder?«

»Möglich«, sagte Bartlitz. »Allerdings muß ich sagen, daß sich diese Art von Kriegsführung sehr weit davon entfernt hat von der, wie wir einen Krieg führen wollten.«

»Wolltet ihr das?« fragte Deutschmann.

»Nein, ich wollte sagen - wie wir es gelernt haben.«

»Gelernt oder nicht, das ist scheißegal«, sagte Wiedeck. »Ich glaube nicht, daß man einen Krieg so führen kann - wie ihr es gelernt habt. Das ist jetzt unwichtig. Ich sage nur eins: Es stinkt!«

Aber Genaueres wußte niemand. Alle warteten darauf, daß Oberleutnant Obermeier aus Babinitschi zurückkam. Außerdem sollte er auch Post mitbringen - die erste Post nach langen Wochen. Und die war noch wichtiger als Schnaps oder eine Sonderration glitschigen Brotes.

Der Motorschlitten rumpelte durch die weiße Nacht. Oberleutnant Obermeier saß neben dem Fahrer, einem altgedienten Gefreiten, und döste vor sich hin.

Plötzlich wurde das Motorengebrumm tiefer, und der Schlitten fuhr langsamer. Obermeier schreckte aus seinen Gedanken hoch und sah den Gefreiten an, der auf die Straße vor sich spähte.

Am Rand der Straße lag ein Pferd.

Ein kleines, braunes, struppiges Panjepferd. Seine Augen schienen fast zugefroren, das Fell war weiß überkrustet. Es rührte sich nicht, und vom Schlitten aus sah es so aus, als wäre es vom Schnee halb zugedeckt. Eine Räumkolonne der 1. und 4. Kompanie hatte die Straße am Abend zuvor frei gemacht und die Schneeberge einfach gegen die Telegraphenmasten gedrückt, die wie einsame, dürre Zeigefinger aus der Ebene ragten.

Seitlich von dem Panjepferd lag hinter einer Schneeverwehung Oberleutnant Sergej Petrowitsch Denkow. Er hatte die Maschinenpistole mit dem großen, runden Magazin auf dem Unterarm liegen und sah hinüber zu dem hoppelnden Schlitten, der aus der Nacht gefahren kam.

»Was ist das?« fragte Obermeier.

Der Gefreite fuhr langsam gegen den dunklen Haufen im Schnee.

»Ich glaube, es ist ein Pferd, Herr Oberleutnant.«

»Sie träumen wohl, wie soll ein Pferd hierherkommen?« Doch dann sah auch Obermeier, daß der Gefreite recht hatte. Anscheinend war es tot. So wenigstens dachte Obermeier. Doch der Gefreite sagte:

»Wahrscheinlich erschöpft. Wer hat es wohl hier liegen lassen? Darf ich anhalten?« In ihm regte sich der westfälische Bauer - und wo gibt es einen Bauern, der an einem leidenden Pferd vorbeifahren und es seinem Schicksal überlassen könnte? Ohne auf Obermeiers Antwort zu warten, bremste er den Schlitten ab.

Sergej drückte den Sicherungsflügel seiner Maschinenpistole herunter. Zugleich schob er den Lauf der Waffe etwas höher. Nur zwei dachte er. Aber heute zwei und morgen zwei und übermorgen zwei ... solange es auf der Welt Deutsche gibt ... Er biß sich auf die Lippen, sein Zeigefinger legte sich um den Abzug.

»Sehen Sie nach«, sagte Obermeier.

Der Gefreite kletterte vom Schlitten und ging auf das Pferd zu - direkt in Sergejs Schußrichtung.

Nun kletterte auch Obermeier vom Bock. Er war mitten in der Bewegung, als das Panjepferd mit einem plötzlichen, wilden Satz aufsprang, als habe es die Witterung der fremden Männer erschreckt. Auch Sergej zuckte vor dem plötzlich aufjagenden Schatten zusammen, und zugleich schoß er.

»Deckung«, brüllte Obermeier und ließ sich in den Schnee neben dem Schlitten fallen. Der Gefreite blieb einen Augenblick ratlos stehen, warf sich dann nach vorn - und erhielt mitten im Sprung einen donnernden Schlag gegen die Stirn. Er warf die Arme empor, die Nacht war für den Bruchteil einer Sekunde rot und grell, dann schlug er der Länge nach in den Schnee, seine Hände scharrten sinnlos herum, und seine Füße trampelten auf den Boden, daß die Eisstückchen herumspritzten. Dann streckte sich sein Körper lang aus und blieb regungslos liegen.

Das Pferd galoppierte die Straße entlang. Mit fliegender Mähne, wirbelnden Beinen und weit vorgestrecktem Hals. Der Schaum stand ihm vor dem Maul.

Sergej kroch nach rückwärts, dann seitwärts, hinter einen Telegraphenmast und sah vorsichtig über den Schneehaufen gegen den Schlitten. Ein dünner Knall zerriß die dumpfe Stille, und neben seinem Kopf stäubte der Schnee auf. Der Gegner schoß. Er wechselte wiederum die Stellung; diesmal kroch er etwas weiter, und als er wieder über den Schnee sah, blieb alles still. Doch auch er konnte von hier aus den Gegner, der hinter dem Schlitten lag, nicht sehen. Alles blieb still und ruhig, der Schlitten stand, etwa 30 Meter weit von ihm entfernt, mitten auf der Straße, und davor lag die dunkle, ausgestreckte Gestalt des Toten.

Sergej wartete.

Er wird kommen, sagte er zu sich. Ich habe Geduld. Er wird kommen. Er ist ein Deutscher. Er will ein Held sein. Alle deutschen Helden sind ungeduldig, darum überleben sie gewöhnlich ihre Heldentaten nicht.