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Er wartete - und er wußte nicht, daß Obermeier kein Held sein wollte, sondern nur ein Mensch in Uniform war, der genauso warten konnte wie Sergej. Warten, um zu töten.

Fast eine Stunde lagen sie sich stumm gegenüber.

Als die Nacht langsam, unmerklich einer fahlen Dämmerung wich, wußte Sergej, daß er sein Opfer nicht bekommen würde. Er konnte nicht länger warten. Bald schon mußten Deutsche die Straße entlangkommen, eine Patrouille vielleicht oder eine Nachschubkolonne. Wenn sie ihn hier erwischten, war er erledigt. Und bald schon würde es zu hell sein, um fliehen zu können. Der andere würde ihn sehen, bevor er zwischen den Büschen des nahen Waldes verschwand. Ich habe einen getötet, sagte er sich, als er steifgefroren, zähneklappernd zurückkroch und gebückt hinter dem Schneewall neben der Straße vom Schlitten weglief. Es war einer, morgen werden es zwei sein, oder drei, oder vielleicht mehrere ... Einer ist zu wenig ...

Als er glaubte, weit genug zu sein, bog er nach rechts ab und lief über das freie Feld gegen den Wald. Zwischen den Büschen verschwand er, ein lautloser, verschwommener Schatten.

Obermeier sah ihn, aber er schoß nicht. Es war zu weit. Aber auch wenn Sergej näher gewesen wäre, so wäre Obermeier kaum imstande gewesen zu schießen: Er fror jämmerlich, sein Körper war steif, seine Hände und Füße gefühllos. Langsam, ächzend stand er auf, sah einige Augenblicke dem verschwundenen Gegner nach und begann dann wie verrückt um den Schlitten zu laufen. Es dauerte eine ganze Weile, bis in seinen Körper wieder Gefühl zurückkam. Als es in seinen Füßen und Händen scharf zu kribbeln begann, trug er den Toten zum Schlitten und bettete ihn auf den Rücksitz. Doch bevor er abfuhr, sah er noch einige Sekunden in die Weite des Landes, über die langsam ein neuer Wintertag anbrach. Dieses Land war unersättlich wie ein Riesenschwamm. In ihm hätte die ganze Menschheit Platz, dachte er, und auch dann wäre es nicht zu voll.

Es begann zu schneien. Lautlos, in kleinen kalten Flocken.

Der Schlitten fuhr an und entfernte sich immer schneller.

In Barssdowka empfing Stabsarzt Dr. Bergen den Oberleutnant. Etwas abseits stand Oberfeldwebel Krüll. Seit zwei Stunden hatten sie auf den Schlitten gewartet und sprachen bereits davon, daß sie einen Erkundungstrupp gegen Babinitschi schik-ken wollten. Nun standen sie wortlos neben dem Schlitten, als Obermeier mit steifgefrorenen Gliedern herunterkletterte.

»Tot?« fragte Stabsarzt Dr. Bergen und zeigte mit dem Kinn gegen den Gefreiten auf dem Rücksitz. Es war eine sinnlose Frage: Jedermann konnte sehen, daß der Mann tot war. So konnte nur ein Toter daliegen.

»Wer?« fragte Oberfeldwebel Krüll. In seiner Kehle saß ein dicker Kloß. Er fror, aber es war nicht nur die Kälte, die ihn zittern ließ.

»Gefreiter Lohmann. Lassen Sie ihn wegschaffen«, befahl Obermeier kurz.

»Kommen Sie, ein Schnaps wird Ihnen guttun«, sagte Stabsarzt Dr. Bergen.

Die beiden Offiziere gingen schweigend zu Dr. Bergens Unterkunft und ließen den Oberfeldwebel zurück, der wortlos, mit weitaufgerissenen Augen den Toten anstarrte.

Der Tod des Gefreiten Lohmann wurde zur Kenntnis genommen und beflucht - und trat sogleich zurück vor der Kunde, daß Oberleutnant Obermeier tatsächlich Post mitgebracht hatte.

Bis hinaus zu den Schanzkommandos drang diese Nachricht. Der mürrisch gewordene, schweigsame Wiedeck verwandelte sich in einen aufgeregten Jungen vor der Weihnachtsbescherung. Ruhelos lief er umher, verharrte plötzlich still, fragte immerzu, wie spät es sei, und fing erstmals nach langen Wochen von seiner Frau und den Kindern zu reden an.

»Erna hat todsicher geschrieben«, sagte er. »Ich möchte nur wissen, wie es dem Kleinen geht. Nimmt denn dieser Tag überhaupt kein Ende?«

Der ehemalige Oberst Bartlitz, der bei der Küche von einem Leichtverwundeten abgelöst worden war, saß still und nachdenklich in einer Ecke des halbfertigen Bunkers, schlürfte heißes Wasser, das sie Tee nannten und über einem Knüppelfeuer in den Kochgeschirren wärmten, und träumte vor sich hin. Was würde wohl Brigitte schreiben! Obwohl sie die Tochter eines Generals war, der im Ersten Weltkrieg fiel, war sie auch dann tapfer geblieben, als er wegen Befehlsverweigerung degradiert und in dieses Bataillon geschickt worden war. Einmal durfte sie ihn besuchen, als er noch in Untersuchungshaft war, und sagte über den Besuchstisch hinweg, sehr ruhig und besonnen: »Kopf hoch, Liebster! Denk an Napoleon ... es wird nicht allzu lange dauern!« Es war ein Glück, daß der wachhabende Feldwebel nicht wußte, wer Napoleon war ...

Als Bartlitz an diese kleine Szene zurückdachte, lächelte er kaum merklich. Brigitte hat ganz bestimmt geschrieben - und nicht nur einen einzigen Brief. Wenn kein Brief da war, dann mußte irgend etwas geschehen sein. Und wie so oft in den letzten Wochen und Monaten, fing er schweigend zu beten an: Gott, laß sie gesund bleiben, laß sie nicht umkommen bei den Luftangriffen, laß sie am Leben bleiben, laß mich zurückkommen zu ihr, laß mich sie finden, wenn ich zurückkomme ...

Zusammengekauert, mit grauem, eingefallenem Gesicht, das Kochgeschirr in der leicht zitternden Hand, mit abwesenden Augen saß er da, trank und betete.

Im Hauptverbandsplatz Barssdowka hatte Oberfeldwebel Krüll die Post bereits gesichtet und einige Briefe aussortiert. Es waren Briefe an Schwanecke, Deutschmann, Kronenberg und an einige andere »Lieblinge« des Oberfeldwebels. Vor allem der Brief an Deutschmann ärgerte ihn.

Auf dem Umschlag stand: Herrn Dr. Ernst Deutschmann -und das war es, was ihm gegen den Strich ging. So nahm er einen Rotstift, strich alles durch und schrieb mit klobigen Buchstaben hin: Schütze E. Deutschmann -.

Dann nahm er die ganze Post, ging damit zu Obermeier, der in Dr. Bergens Zimmer saß und legte sie vor.

»Auch für Schwanecke ist was dabei«, sagte er. »Soll ihm der Brief wirklich ausgehändigt werden, Herr Oberleutnant? Ohne Kontrolle?«

Obermeier nickte. »Geben Sie mir den Brief. Ich werde ihn selbst aushändigen.«

»Und Schütze Deutschmann?«

»Warum fragen Sie? Haben Sie nicht gesehen, daß der Brief als dringliche Dienstsache eingestuft ist? Fragen Sie nicht so dumm, gehen Sie schon und verteilen Sie die Post, an die, die hier sind. Los, ab!«

Wütend verließ Krüll Dr. Bergens Unterkunft. Immer diese Ausnahmen, dachte er bitter. Dringliche Dienstsache, was hat dieser Viertelsoldat für dringliche Dienstsachen zu bekommen! Aber die halten zusammen! Die halten immer zusammen, auch wenn einer ein Offizier ist und der andere nur ein Schütze. Die halten zusammen, wenn dieser Scheißschütze so’n lausiges Abitur hat und noch mehr, wenn er’n Doktor ist. Was heißt hier schon - Doktor!?

»Da, Herr Doktor!« sagte Krüll mit bissigem Spott, als er in der Lazarettbaracke Deutschmann fand. »Ein Brief lein aus der Heimat - dringliche Dienstsache für Herrn Doktor. Los - auffangen!« Er warf den Brief Deutschmann zu, aber er warf ihn absichtlich zu kurz.

Deutschmann sagte nichts. Er bückte sich wortlos, hob den Brief auf und steckte ihn in die Tasche.

Enttäuscht ging Krüll weg. Kein Rückgrat, diese Intellektuellen, dachte er grimmig, kein Mumm in den Knochen. Schwanecke hätte wenigstens: »Leck mich ...«

Schwanecke hätte wenigstens: »Leck mich ...« gesagt. Aber dieser Viertelsoldat! Zu vornehm, viel zu vornehm.

In seiner Kammer neben der Scheune setzte sich Deutschmann auf einen Hocker und wog den Brief in der Hand. Er dachte zunächst, er wäre von Julia, und ein heißes Schamgefühl und nahezu Angst vor dem Schreiben drückten ihm das Herz zusammen. Als er dann aber sah, daß nicht Julia, sondern Dr. Kukill geschrieben hatte, war er doch enttäuscht. Warum schrieb Julia nicht? War etwas geschehen? Vielleicht - Bombenangriff? Warum schrieb ihm dieser Dr. Kukill? Was wollte er jetzt auf einmal? War es etwa - wegen Julia? Aber das war doch unmöglich!