»Mensch - was hat er denn jetzt?« fragte Kronenberg leise.
»Was schreibt denn die Mutti?« schrie Krüll vom anderen
Ende der Scheune.
Schwanecke hörte es nicht. Ein Brief nach fünf langen Jahren. Was hatte sie geschrieben? Ausgebombt ... und der Name Schwanecke ist wie ein Teufel ... sie möchte lieber tot sein ...
»Schweine!« schrie er plötzlich auf. Er sprang hoch, den Kopf in den Nacken geworfen, den Mund weit offen, als könnte er keine Luft bekommen. »Schweine!« brüllte er grell, nur das eine Wort immer wieder. Dann zerknüllte er den Brief, schleuderte ihn in die Dunkelheit des Raumes und stampfte wie ein Irrer auf. »Mutter!« schrie er jetzt. »Mutter ... alle sind Schweine! Alle!«
Krüll und Kronenberg stürzten zu ihm hin. Sie erreichten das Bett, als Schwanecke begann, mit Händen und Füßen seine Liege zu zerstören, brüllend, um sich schlagend, mit erschrek-kend verzerrtem Gesicht und irrsinnigen Augen.
»Weg!« schrie er. »Weg von hier! Ich bringe euch um, ich bringe alle um, alle!«
Kronenberg und Krüll wechselten einen schnellen Blick. Der Fall war klar: Schwanecke hatte einen Koller. Sie warfen sich auf den Tobenden, aber es mußten noch drei kommen, bis sie ihn endlich überwältigten, ihn in das halbzerstörte Bett legen und festbinden konnten.
Stabsarzt Dr. Bergen, Dr. Hansen und Obermeier kamen in die Scheune gerannt.
Kronenberg klopfte sich die Hände ab, als hätte er einen Mehlsack getragen. Sein linkes Auge fing an, anzuschwellen. »Er schläft«, sagte er trocken. »War ein kleiner Schock für ihn. Vielleicht hat er in den Jahren das Lesen verlernt und ärgerte sich darüber.«
»Halten Sie Ihr dummes Mundwerk, Kronenberg!« schnauzte ihn Obermeier an. Er trat an das Bett heran und blickte auf das anschwellende, zerschlagene Gesicht Schwaneckes. »Ich nehme ihn mit nach Gorki - und Sie kommen auch mit, Krüll.«
»Aber meine Verwundung, Herr Oberleutnant ...«, stotterte Krüll.
»Ich hab’ mir sagen lassen, daß Ihr Hintern wieder gut ist. Im übrigen brauche ich nicht Ihr Gesäß, sondern Ihre Hände, und die sind, wie man sieht, wieder vollkommen in Ordnung. Oder haben Sie etwa mit dem Hintern auf Schwanecke eingeschlagen?«
»Nein, Herr Oberleutnant.«
»Also: Heute nacht um ein Uhr vor der Operationsbaracke.«
»Jawohl!«
»Und die Partisanen?« fragte Dr. Bergen.
»Machen Sie sich nichts draus, Herr Doktor, wir müssen zurück.«
Krüll schlich zu seinem Bett. Wieder an die Front, dachte er. Wieder zurück in diesen Dreck: Feindeinsicht, Feuerüberfälle, Partisanen. Mist.
Dr. Bergen gab Schwanecke eine Morphiumspritze.
»Wird er sich beruhigen?« fragte ihn Obermeier.
»Bis heute nacht schläft er. Ich hoffe, daß es dann vorbei ist.«
»Was war eigentlich los?« wandte sich Obermeier an Kronenberg.
»Der Brief .«
»Wo ist er?«
Kronenberg suchte den zerknüllten Brief und gab ihn dem Oberleutnant, der ihn glättete und las. Als er fertig war, faltete er ihn sorgfältig zusammen, steckte ihn in die Tasche und verließ schweigend den Raum.
»Was muß da bloß drinstehen, der war ja auch ganz belämmert?« sagte Kronenberg.
»Wer weiß. Es gibt Briefe, die man nie abschicken sollte«, sagte Dr. Hansen, bevor er ging.
Um ein Uhr nachts standen Krüll und Schwanecke vor der Operationsbaracke. Schwanecke lehnte, finster vor sich hinblickend, an der Wand. Als er aufgewacht war und sich auf das Bett gefesselt sah, lachte er zuerst lange und hysterisch. »Ich haue euch schon nicht ab, ihr Idioten!« sagte er dann, vom Lachen geschüttelt. »Wo soll ich denn hin in diesem Mistland?«
»Man kann’s nie wissen, du hast einen ganz schönen Koller gekriegt, und man weiß ja, daß Leute mit Koller allerlei Dummheiten machen.« Kronenberg saß am Fußende und hielt hinter dem Rücken eine neue Spritze bereit, falls Schwanecke wieder zu toben beginnen würde. »Dich wird ja einmal doch die SS schnappen und aufhängen. Dabei hättest du als Überläufer beim Iwan die größte Chance.«
Krüll trat Kronenberg auf den Fuß und zu Schwanecke sagte er grob: »Dir schießen sie die Rippen einzeln ‘raus, wenn du abhaust.« Nachdem selbst Stabsarzt Dr. Bergen, Krülls letzte Hoffnung, ihn k.v. geschrieben und damit bestätigt hatte, daß sein Schuß in den Hintern kein Hindernis wäre auf dem Weg zum Heldentum, hatte sich Krüll den Gegebenheiten schnell angepaßt. Dies wurde schon eine Viertelstunde nach der Untersuchung und endgültigen Entscheidung bekannt, als Krüll in der Lazarettscheune einen Leichtverletzten strammstehen ließ und ihn durch den Mittelgang hin und her jagte, weil er, wie er sagte, im warmen Bett verlernt hätte, anständig die Vorgesetzten zu grüßen. »Euch werde ich helfen«, schrie er durch die Lazarettscheune, »Ihr Simulanten wärmt euch hier den Bauch, während wir draußen im Schnee liegen und Eis kauen! Alle Lazarettrückkehrer werde ich in Zukunft selbst nachbehandeln!«
»Sauhund!«
Krüll fuhr herum. In den Betten lagen die Schwerverletzten. Auf den Pritschen und Strohsäcken lümmelten sich die Gehfähigen und grinsten.
»Wer war das?«
Aus der Dunkelheit im Hintergrund kam leise und klar: »Der Wind, der Wind, das himmlische Kind .«
Kronenberg kicherte. Aber mit den Sanitätern wollte es sich Krüll nicht mehr verderben. So schwieg er und ballte die Fäuste. »Es wird auch wieder eine andere Zeit kommen!« drohte er, und Kronenberg nickte heftig.
»Hoffentlich! Darauf warten wir ja alle .«
»Wie meinen Sie das?«
»Genauso, wie Sie gesagt haben, Herr Oberfeldwebel.«
So war der Abend vergangen. Doch in der Nacht, als sie vor der Baracke standen und froren, war Krüll stiller geworden, in sich gekehrt und sehr nachdenklich. Die Front kam wieder näher, er dachte an die Partisanen, durch deren Gebiet sie gleich fahren mußten, an das Grabensystem mit seinen Granatwerferüberfällen, den nächtlichen Feuerstößen, dem Artilleriefeuer. Und er dachte an die undefinierbare Drohung der nahen Zukunft, an die ungreifbare und doch überall gegenwärtige und immer eindringlicher werdende Ahnung einer nahenden Katastrophe.
Was es war, und woher er dieses Wissen oder diese Ahnung des Unheils hatte, wußte Krüll nicht. Es war zu ihm gekommen, genauso wie es zu den anderen gekommen war, leise, schleichend, eindringlich.
Als er so an der Hauswand stand und gegen das kalte Holz lehnte, kümmerte er sich nicht um Schwanecke, der neben ihm stand, und es wäre ihm wahrscheinlich auch gleichgültig gewesen, wenn nach und nach eine Kompanie Landser an ihm vorbeigegangen wäre, ohne ihn zu grüßen.
Schließlich kam Oberleutnant Obermeier. Unter der Fellmütze hatte er einen Schal um den Kopf gebunden und sah aus wie ein Zahnkranker, der seine geschwollene Backe schützte.
»Alles klar, Oberfeldwebel?«
»Jawohl, Herr Oberleutnant!«
»Wir nehmen auch Deutschmann mit. Er muß gleich kommen.«
»Was macht er denn noch?« fragte Schwanecke respektlos.
»Dr. Hansen muß ihm noch einiges Material zusammenpak-ken«, antwortete Obermeier, aber dann schien er sich plötzlich zu erinnern, wer es gefragt hatte und wie - wollte aufbrausen -und unterließ es. Schweigend und nachdenklich betrachtete er Schwanecke, der seinen Blick mit einer dumpfen Gleichgültigkeit erwiderte.
»Schwanecke ...«
»Ich weiß, Herr Oberleutnant. Sie brauchen es gar nicht zu sagen: Bei Fluchtversuch wird sofort geschossen. Habe ich jetzt schon hundertmal gehört. Es hängt mir zum Hals heraus!«
»Vergessen Sie es nur nicht. Sie werden übermorgen nach Orscha überstellt.«
»Warum denn?«
»Sie wissen Bescheid.«
»Wenn’s sein muß .«
Ein Schlitten mit zwei Panjepferdchen kam die Dorfstraße herunter und hielt vor der Scheune an. Ein Landser, vermummt wie ein Nordpolfahrer, unkenntlich wie ein Wesen von einem anderen Stern, hockte auf dem Bock. Er legte lässig die Hand an die Fellmütze, die er einem russischen Muschik abgenommen hatte und statt der Feldmütze trug. Jetzt kam von der Lazarettbaracke her auch Deutschmann, langsam, wie schlafwandlerisch, nach vorn gebeugt, mit stillen, leeren Augen.