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Obermeier musterte ihn kurz und fragte sich heute schon zum zweitenmal, was diesem Mann geschehen war, daß er sich so verwandelt hatte. Deutschmann war ja nie laut und gesprächig gewesen, doch hatte er sich allem Anschein nach an die Uniform gewöhnt und auch an die Einheit, in der er dienen mußte. Von ihm ging eine stille, gelassene Ruhe aus, die Einsicht eines Mannes, der sich mit den Gegebenheiten abgefunden hatte. Seit heute morgen aber, als er, Obermeier, ihm den Brief aus Deutschland gegeben hatte, war es damit vorbei: Es schien, als wäre alles Leben von Deutschmann gewichen und als bewege sich hier ein lebender Toter nur noch unter dem Zwang äußerlicher Einflüsse, der wie ein Automat sprach und auf Fragen antwortete, ohne wirklich dabeizusein.

Krüll stieg als erster ein. Er zog Schwanecke hinter sich her und postierte sich neben ihm, so daß er jede seiner Bewegungen sehen konnte. Deutschmann beachtete er nicht.

Stabsarzt Dr. Bergen kam aus seiner Baracke gelaufen und rief Obermeier zu:

»Jetzt gerade rief Wernher an. Bei Witebsk ist der Russe auf einer Breite von über dreißig Kilometern durchgebrochen. Er nimmt an, daß der nächste Stoß hier bei uns erfolgen wird.« Er stockte und trat dann ganz nahe an Obermeier heran: »Wenn wir uns nicht mehr sehen sollten, nehmen Sie mit auf den Weg: Sie sind einer der letzten anständigen Kerle hier, und ich - ich .«

Er wandte sich schroff ab und eilte durch den Schnee zurück in die Operationsbaracke. Obermeier sah hinter ihm her, schüttelte den Kopf, ging zum Schlitten und setzte sich neben Krüll.

»Abfahren!«

Krüll blickte ihn erschrocken an.

»Der Russe ist durchgebrochen?«

»Es scheint so.«

»Und jetzt - bei uns?«

»Wahrscheinlich.«

Krüll schluckte. »Was sollen wir nur machen, wenn es hier losgeht, Herr Oberleutnant? Wir haben doch nichts. Für die ganze Kompanie nur drei MGs, vier Maschinenpistolen, zehn Karabiner, fünf Pistolen. Das ist alles. Damit können wir den Russen doch nicht aufhalten!«

»Sie haben wieder einmal recht, Krüll.«

Schwanecke grinste breit. »Gleich stinkt’s, Herr Oberleutnant. Rücken Sie ab - er scheißt in die Hosen .«

Aber Krüll beachtete ihn nicht. Mit weit offenen Augen sah er den Oberleutnant an. »Sie werden uns ab knallen wie die Hasen«, sagte er, »wir können uns doch nicht so einfach abknallen lassen!«

»Warum eigentlich nicht?«

Obermeier rieb sich die klammen Hände. »Was glauben Sie denn, warum wir hier sind?«

Der Morgen graute, als der Pferdeschlitten in Gorki einfuhr und vor dem Kompaniegefechtsstand hielt. Jens Kentrop, der in Abwesenheit Obermeiers und Krülls die Kompaniegeschäfte führte, kam aus der Hütte gelaufen und machte Meldung. Die Unteroffiziere Peter Hefe und Hans Bortke waren mit den Schanzkolonnen draußen im Grabensystem und hatten mit dem in der vergangenen Nacht verlegten Feldtelefon durchgegeben, daß eine russische Patrouille hinter der deutschen HKL eine Arbeitskolonne beschossen habe. Da nur drei Karabiner und zwei Pistolen zur Verteidigung vorhanden waren, hatte die Kompanie schwere Verluste: sieben Tote und dreizehn Verwundete. Erst nachdem die Verstärkung mit einem MG und zwei Maschinenpistolen kam, zogen sich die Russen zurück und ließen drei Tote liegen.

Oberfeldwebel Krüll, der diese Meldung beim Aussteigen mitanhörte, hatte das Gefühl, die Welt würde über ihm einstürzen. Jetzt war es da, was er befürchtet hatte.

Obermeier schwieg. Er nickte Kentrop zu und ging mit gesenktem Kopf in die Hütte. Kentrop drehte sich zu Krüll um und sagte mißmutig:

»Es stinkt gewaltig. Und das ist nur der Anfang. Bei der 1.

Kompanie hat es in dieser Nacht ganz fürchterlich gebumst.«

Deutschmann hatte diese Gespräche wie durch einen dicken Wattebausch vernommen. Er kümmerte sich nicht um die anderen. Mit abwesendem, starrem Blick, der in seine Augen gekommen war, nachdem er Dr. Kukills Brief gelesen hatte, setzte sich Deutschmann auf seine Pritsche in der winzigen Kammer, wo er schlief. Der verhängnisvolle Brief knisterte in seiner linken Brusttasche. Auf der ganzen Fahrt von Barssdowka nach Gorki hatte er kein Wort gesprochen, weder mit Obermeier, der ihn in Ruhe ließ, noch mit Krüll oder Schwanecke, die einige Male ein Gespräch beginnen wollten und immer wieder aufhörten, da er keine Antwort gab.

Julia ist tot. Das hatte er zwischen den Zeilen herausgelesen. Dr. Kukill hatte sie sterben sehen, sie hatte sich für ihn, Deutschmann, geopfert. Sie hatte beweisen wollen, daß er unschuldig war. Sie hatte an ihn geglaubt, an ihn und an seine Arbeit, sie hatte ihm vertraut - doch der Aktinstoff hatte auch bei ihr versagt. Was bedeutete es, daß Kukill ihn jetzt bat, Zusammensetzungen, Formeln, Versuchserfahrungen zu schicken, daß er schrieb, er glaube an die Möglichkeit eines Aktinstoffes, daß er beteuerte, er wolle ihn rehabilitieren? Das alles war nebensächlich, unwichtig gegen die Tatsache, daß Julia gestorben war, während er mit Tanja ...

Es gab keinen Ausweg aus seiner Qual. Es gab keinen Ausweg vor den Selbstvorwürfen und der Selbstanprangerung. Und während er auf der Pritsche saß und vor sich hinstarrte, hatte er das Gefühl, er wäre schuld an Julias Tod, er allein. Niemand konnte ihm diese Schuld abnehmen, nie mehr würde er frei von ihr sein. Er nahm den Brief aus der Tasche und zerriß ihn in ganz kleine Teile, die er auf den Boden streute und mit den Stiefelsohlen in den Lehm rieb.

Oder - eine unsinnige Hoffnung regte sich in ihm - oder war Julia gar nicht gestorben? Kukill schrieb doch nur, daß sie sehr schwer krank sei, aber von ihrem Tod stand kein Wort in dem Brief. Vielleicht - vielleicht würde sie durchkommen, genauso wie er selbst durchgekommen war ... vielleicht ...

Unsinn!

Er wischte mit der Handfläche über sein Gesicht. Es war unsinnig, sich einer Hoffnung hinzugeben. Es gab keine mehr. Julia war tot.

Er zog seinen Mantel aus, legte ihn über die Pritsche, hielt mitten in der Bewegung inne und sah mit einem irren Blick um sich, als würde er etwas suchen. Es war irgend etwas, was er hatte tun wollen, es gab irgend etwas, was er erledigen mußte ... nicht nur er war schuld an Julias Tod, nicht nur er ... warum war er eigentlich hier? Warum mußte er hier sitzen in dieser elenden Kammer, verdreckt, verlaust ... warum das alles? Wie kam es zu dem Abenteuer mit Tanja? Warum kam es dazu? Es war ein Abenteuer, es war ein Mittel, um zu vergessen, und das alles wäre nicht geschehen - wenn nicht dieser Mann gewesen wäre, der ihm geschrieben hatte: Dr. Kukill. Er war schuld. Wäre er nicht gewesen, so würde er, Deutschmann, immer noch in Berlin leben, arbeiten - zusammen mit Julia. Mit einer gesunden, schönen Julia, seiner Frau, seiner wunderbaren Frau, die nicht nur Ehefrau war, sondern eine Freundin, Mitarbeiterin ...

Hastig, mit nervösen, fliegenden Händen riß er einen Pappkarton unter seinem Bett hervor, nahm einen Schreibblock und einen Bleistift heraus, legte den Block auf die Knie und begann zu schreiben:

»Dr. Kukill, ich habe Ihren Brief erhalten. Es dürfte Sie kaum interessieren, wie sehr mich Ihr wehleidiges Stottern angeekelt hat. Ich sage es Ihnen trotzdem. Ich sage es Ihnen vor allem, um endgültig klarzustellen, was ich glaubte, zwischen den Zeilen Ihres Briefes herauszulesen: Sie empfinden ein gewisses Gefühl der Schuld. Aber das ist zu wenig, Herr Dr. Kukill. Ich kann mir vorstellen, daß Sie sich darüber keine grauen

Haare werden wachsen lassen; wie ich Sie kenne, liegt es Ihnen fern, sich je über das Leid Ihrer Mitmenschen, das Sie verursacht haben, Gedanken zu machen. Wenn ich könnte - und gebe Gott, daß es mir einmal möglich sein wird -, würde ich Ihnen jetzt und immer wieder ins Gesicht schlagen und so laut brüllen, daß Sie es hören müßten: Sie sind schuld! Sie sind schuld! Sie sind schuld, daß ich hier bin, Sie sind schuld, daß Julia tot ist, Sie sind schuld! Julia ist tot - und das haben Sie ... das haben Sie ... Sie sind schuld! Julia ist tot - tot!«