Julia wurde unsicher.
Er reichte ihr die Hand wie einer guten alten Bekannten. Dabei lächelte er, sein Gesicht verlor mit einem Schlag die Härte und die unnahbare Strenge, und als er sprach, brach aus ihm seine charmante Wiener Art hervor, der betörende Tonfall einer Stimme, die er zu gebrauchen verstand wie ein Instrument: Sie konnte brüllen, eisig dozieren und bezaubernd plaudern.
»Sie wissen, warum ich gekommen bin?« fragte Julia, dankbar für das Dämmerlicht im Vorraum, das ihre zitternden Hände und ihr heißes Gesicht verbergen half. Sie zwang sich zur Ruhe, doch ihre Stimme bebte.
»Ich kann es mir denken, gnädige Frau, oder besser: Kollegin. Wir sind doch Kollegen? Aber kommen Sie, warum stehen wir hier herum? Was es auch ist, was Sie mit mir zu besprechen haben, wir können es uns bequemer machen.« Er öffnete eine dunkle Eichentür und führte sie in den mit zierlichen Möbeln ausgestatteten Salon, der zum Garten hin lag.
Ein großes Glasfenster, beinahe eine Glaswand, ließ den Blick frei in den großen, baumbestandenen, parkähnlichen Garten, der jetzt in die erste Abenddämmerung eingehüllt war. Zwischen Rhododendron und Fliederbüschen lag halb versteckt ein Schwimmbecken.
Dr. Kukill drehte das Licht an und zog die schweren Vorhänge zu. Dann deutete er lächelnd auf einen großen, zitronengelben Sesseclass="underline" »Bitte, nehmen Sie doch Platz.«
Julia setzte sich. Wie brachte es der Mann nur fertig, unausgesetzt zu lächeln und so ruhig zu erscheinen - obwohl er doch wissen mußte, was sie von ihm wollte?
»Ich möchte mit Ihnen über alles noch einmal sprechen«, begann Julia. Jetzt brauchte sie sich nicht mehr zur Ruhe zu zwingen, sie war ruhig. Der Mann, der aus der Wand einen Bartisch herausklappte, war ihr Gegner. Ein Gegner, den man nur mit kühl rechnendem Verstand besiegen oder in die Enge treiben konnte.
»Ich kann mir nicht vorstellen, welchen Sinn es hätte«, sagte er und drehte sich hin zu ihr. »Aber sagen Sie zuerst - was wollen Sie trinken, einen Kognak? Armagnac 1913? Ich habe ihn für die liebsten Gäste.« Er brachte es tatsächlich fertig, dies ohne eine Spur von Ironie in der Stimme zu sagen.
»Bitte«, sagte Julia.
Dr. Kukill zündete eine Kerze an, wärmte zwei Schwenkgläser über der kleinen flackernden Flamme an und schenkte dann die goldbraune Flüssigkeit ein - etwa fingerbreit voll in jedes Glas. »Es gibt Menschen«, plauderte er währenddessen, »die mir dies alles übelnehmen, das Haus hier oder den Kognak aus dem Jahre 1913, wenn Sie wollen. Es sei keine Zeit dafür, meinen sie. Welche Zeit soll dann dafür sein? Laut Versicherungstabellen beträgt die Lebenserwartung des heutigen Europäers etwa 66 Jahre. Durch den Krieg wird sie einen beachtlichen Fall nach unten machen. Morgen kann es soweit sein - aus für immer. Soll man da das Leben nicht zu würzen versuchen, was meinen Sie?«
»Daran habe ich noch nicht gedacht«, sagte Julia.
»Aber nicht doch! Nicht so bitter!« lächelte er, setzte sich, hob das Glas, betrachtete es prüfend gegen das Licht und sah dann Julia an: »Kommen Sie, trinken wir - auf Ihr Wohl!«
»Ich weiß nicht, was Sie für ein Mensch sind«, begann Julia dann, »vielleicht sehen Sie wirklich nur das hier« - mit der Hand machte sie eine kleine Gebärde, die Kukills Salon, sein Haus, den Garten, den Kognak auf dem Tischchen und seine Worte umfaßte - »vielleicht kümmern Sie sich wirklich nicht darum, was um Sie vorgeht.«
»Kaum«, lächelte Dr. Kukill.
»Aber das andere gibt es auch«, sprach sie weiter, ohne ihn zu beachten. »Gestern gab es einen Luftangriff und viele Tote, und heute wird es wahrscheinlich wieder einen Angriff geben und vielleicht noch mehr Tote, und es gibt Rußland und Italien und immer wieder den Tod, aber auch kleine, scheinbar kleine Sachen, die anderen Menschen das Leben bedeuten - oder das, wofür sie leben.«
»Ihren Mann, das meinen Sie doch?« sagte Dr. Kukill trok-ken.
»Ja«, antwortete Julia und sah ihn voll an. »Das ist meine Welt. Verstehen Sie mich doch - ich - ich weiß nicht, wohin ich sonst gehen sollte als zu Ihnen. Es war alles eine Verkettung tragischer Umstände.«
»So würde es ein Jurist nennen. Wir wollen einfacher sprechen: Es war ein Irrtum, das wollten Sie doch sagen?«
»Und Sie? Was sagen Sie?«
Dr. Kukill schob die Unterlippe vor und betrachtete sinnend seine schmalen, weißen Hände: »Und wenn es wirklich ein
Irrtum gewesen wäre ...?«
Julia sprang auf: »Und das - das sagen Sie? Ihr Gutachten hat Ernst den Hals gebrochen, Ihretwegen wurde er verurteilt! Und nun - nun sitzen Sie seelenruhig hier und sagen: Und wenn es wirklich ein Irrtum gewesen wäre?«
»Bitte, beruhigen Sie sich doch! Setzen Sie sich! Mein Gutachten war rein wissenschaftlicher Art. Es war fundiert, es war gerecht, es war nach dem Stand der heutigen Wissenschaft gehalten. Als Sachverständiger vor Gericht können Sie nicht mit Möglichkeiten operieren, mit Annahmen, mit Hypothesen.«
»Wir haben doch gute Ergebnisse erzielt .«
Dr. Kukill hob die Hand leicht an. »Wieviel Versuchsreihen haben Sie durchgeführt?«
»Etwa dreißig.«
»Und dabei wollen Sie von guten Ergebnissen sprechen? Sie als Ärztin? Aber lassen wir das. Wie sieht - oder wie sah die Sache aus?« Er legte die Finger gegeneinander und betrachtete Julia sinnend. Er war nur halb bei diesem Gespräch, das sinnlos war, nutzlos, ermüdend: Ernst Deutschmann war nicht zu helfen. Und einen Augenblick lang dachte er überdrüssig daran, daß er nur seine Zeit vergeude. Aber - sie war hübsch, elegant, gepflegt und mutig. Nein, mehr: Sie war schön. Von ihr ging ein eigentümlicher Zauber aus, wie man ihn bei einer schönen Frau nur selten findet, eine Mischung aus Klugheit, Zielstrebigkeit, reinem Willen und Hilflosigkeit. Was wünscht sich ein Mann mehr? dachte er, ein wenig neidisch auf Ernst Deutschmann. Was wird aus ihr, wenn er im Strafbataillon umkommt? Und während er nach Worten suchte, um sie von der Aussichtslosigkeit ihrer Bemühungen zu überzeugen, dachte er, daß sie eine hübsche, schöne Witwe werden würde - aber bestimmt keine lustige. Das heißt: Sie war schon so gut wie eine Witwe.
»Sehen Sie«, begann er, »betrachten Sie die Sache von unserem Standpunkt. An dem Tage, nachdem Ihr Mann den Einberufungsbescheid bekommen hatte, erkrankte er. Einige Zeit später stellt sich heraus, daß er sich den Eiter eines schwer infizierten Menschen besorgt hat, der todkrank war, und sich damit heimlich infizierte - um angeblich im Selbstversuch die Wirkung eines von ihm gefundenen Gegengiftes genau zu erproben. Eine Infektion mit Staphylokokkus aureus dieser Art zieht eine jahrelange Rekonvaleszenz nach sich, jahrelange Untauglichkeit für den Wehrdienst.« Die letzten Worte sprach er langsam und betont aus. Als Julia nicht antwortete, fuhr er fort:
»Das hat er gewußt. Aber das wissen auch wir: Wegen solcher Infektionen, die meist tödlich verlaufen, haben wir in diesem Krieg Zehntausende verloren. Nun will ich ihm allerdings keine Selbstmordgedanken unterschieben. Es ist durchaus möglich, daß er glaubte, ein - sagen wir Serum gefunden zu haben. Und daß er sich, wie alle ihm ähnlichen - soll ich sagen wissenschaftlichen Fanatiker oder Helden? - infizierte, um seine Entdeckung zu erproben. Das ist es, warum ich meinte, seine Verurteilung könnte ein Irrtum sein: Ein Irrtum, also nicht eine Selbstverstümmelung, um dem Wehrdienst zu entgehen, sondern eben ein bedauerlicher Mißgriff. Allerdings kann ein Militärgericht diese Möglichkeit nicht in Erwägung ziehen. Die Tatsache bleibt, daß er sich selbst verstümmelte. Das allein ist entscheidend.«
»Aber - ich bin überzeugt, ich war die ganze Zeit dabei, ich weiß, daß er auf dem richtigen Wege war. Wir hatten nur so wenig Zeit, es mußte so schnell gehen ...«
»Ich schließe auch diese Möglichkeit ein. Aber ein Richter kann es nicht tun. Ich habe Ihnen bereits gesagt: Es gibt kein wirklich wirksames Mittel gegen Infektionen dieser Art. Und ich bezweifle, daß Ihr Mann bei all seinem Talent so genial ist, daß er allein und ohne Hilfe das gefunden hätte, was eine ganze