»Schieben Sie den ganzen Kram beiseite«, sagte Barth, nachdem sich die beiden Offiziere begrüßt und die Hände geschüttelt hatten. »Sie brauchen das Zeug nicht mehr. Wenigstens vorläufig nicht.«
»Sie meinen ...?«:
»Ganz recht. Es ist soweit. Heute nachmittag geht’s los. Gestern abend hat mich der General höchst persönlich angerufen, um mir die Sache noch einmal zu erzählen. Den Herren scheint es sehr wichtig zu sein.«
»Und wir sind also endgültig dazu auserkoren, das Unternehmen durchzuführen?«
»Jawohl. Welch eine Ehre, was?«
»Na, ich weiß nicht .«
Hauptmann Barth holte aus der Kartentasche eine Karte der Umgebung von Gorki und breitete sie auf dem Tisch aus.
»Sehen Sie, ungefähr hier verläuft die Front. Da ist die russische Linie und - dahinter sind höchstwahrscheinlich große Panzerverbände aufgefahren und liegen in Bereitstellungsräumen. Nur ist alles unheimlich still, im Gegensatz zu Witebsk, wo der Teufel los ist. Aber der Generalstab meint, daß hier bei uns mit größter Wahrscheinlichkeit eine neue russische Großoffensive anlaufen wird. Mit der Flugzeugaufklärung ist es nicht weit her, der Himmel ist zu verhangen - und sie wissen ja, daß die Russen Meister der Tarnung sind.«
»Und ob ich das weiß!«
»Die einzige Möglichkeit, die Lage zu erkunden - ist ein großangelegtes Spähtruppunternehmen. Und jetzt wird’s kritisch. Unsere HKL ist ziemlich dünn besetzt. Alle vorhandenen Truppen werden für das Auffangen der ersten sowjetischen Angriffe gebraucht. Was dann kommt, wenn die Truppen verbraucht sind, wissen wir nicht. Die Armee hat auch keine nennenswerten Reserven. Kurz und gut, man kann keinen einzigen Mann der regulären Truppen aus der Front nehmen und zu dem Spähtruppunternehmen schicken. So kommt man auf die Idee, uns zu - verwerten ...«
»Wie sinnig!« sagte Obermeier.
»Nicht wahr? Wir haben also den Befehl, in der kommenden Nacht über die deutsche HKL hinaus und durch die russischen Linien zu schleichen, gruppenweise, unter Benutzung des Partisanenwaldes von Gorki, wo wir ebenfalls Truppenansammlungen vermuten, vor allem eine Menge Minenwerfer und leichter Feldartillerie. Sie wissen ja, wie gefährlich die russische Artillerie sein kann. Sie müssen nun mit ihrer zweiten Kompanie hinter die russischen Linien und ausspionieren, was sich da alles angesammelt hat. Das wäre alles.«
»Mir genügt’s. Glauben Sie, daß noch ein Mann zurückkommt?«
»Sie meinen - oder Sie befürchten, ihre Leute könnten sich scharenweise ergeben?«
»Auch wenn sie das nicht tun ... aber es ist ja fast aussichtslos. Die Russen werden uns der Reihe nach schnappen.«
»Einer wenigstens muß zurückkommen, ich sagte es Ihnen schon. Um der ersten Gefahr, nämlich der des Überlaufens wenigstens etwas vorzubeugen, können Sie Ihren Leuten folgendes sagen: > Jeder <, der nach dem durchgeführten Auftrag zurückkommt, wird seinen früheren Rang zurückerhalten und in seine ehemalige Einheit überstellt werden. Für ihn ist dann die Episode >Strafbataillon< zu Ende.
Und was das übrige betrifft ... ich weiß, was dieser Auftrag bedeutet. Und wir beide wissen, daß die Russen nicht auf den Kopf gefallen sind. Sie sind nicht blind. Aber Sie haben einige sehr gute, alte Soldaten dabei, alte Füchse, die sich nichts vormachen lassen und die mit fast jeder Situation fertig werden. Es stimmt schon: Ein Großteil Ihrer Leute wird draufgehen.
Vor allem die, die noch nie an der Front waren, die zu erschöpft sind, um solche Anstrengungen durchzustehen, und die nicht wissen, wie man sich an der Front bewegen muß. Wir können da nichts ändern. Wichtig ist, wie gesagt, daß zumindest einige zurückkommen und berichten.«
»Wenn ich daran denke, komme ich mir vor wie ein Schlächter, der eine Viehherde in die Wurstfabrik treibt.«
»Aber, aber, Obermeier! Wie können Sie Ihre Leute mit Vieh vergleichen? Ich weiß gar nicht, was Sie haben? Wir mußten doch darauf vorbereitet sein, unter anderem auch solche Aufträge durchzuführen.« Barth beugte sich wieder über die Karte und ging mit der Bleistiftspitze die mit Rotstift eingezeichneten Linien ab.
»Das ist der Generalfahrplan, Oberleutnant. Sie teilen Ihre Kompanie in zehn Gruppen ein, die völlig selbständig operieren. Für dieses Unternehmen wird jede Gruppe vollständig bewaffnet. Sie bekommen also zehn leichte MG 42, also das Beste vom Besten, zehn Maschinenpistolen, die restlichen Leute werden mit Karabinern ausgerüstet. Dazu Handgranaten - eben das übliche. Sie haben doch genug Männer in der Kompanie, die am MG ausgebildet sind?«
Obermeier nickte.
»Also gut. Abgemacht. Sie werden mir aus Barssdowka melden, sobald jemand zurückkommt und etwas Konkretes zu berichten hat.«
»Das wird leider nicht gehen, Herr Hauptmann«, sagte Obermeier trocken. »An meiner Stelle wird Unteroffizier Weg-ner die Kompanie übernehmen.«
»Wegner? Kenne ich nicht. Warum Wegner?«
»Weil ich mitgehen werde.«
Barth warf seinen Bleistift auf den Tisch und starrte Obermeier an.
»Obermeier, was ist denn los mit Ihnen? Machen Sie mir keinen Unsinn. Sie bleiben hier!«
»Bitte, geben Sie mir nicht den dienstlichen Befehl, Herr Hauptmann.«
Barth sah Obermeier lange und prüfend an.
»Was steckt dahinter, Obermeier? Warum gerade Wegner? Machen Sie jetzt wieder Ihre alten, sentimentalen Touren? Wollen Sie unbedingt ein Held sein? Ist etwa dieser Wegner -ein Familienvater?«
»Das sind viele, Herr Hauptmann.«
»Wie viele Kinder hat er?«
»Fünf«, sagte Obermeier. »Aber Sie dürfen mir glauben, es ist nicht nur deswegen ... ich will beileibe auch keinen Helden spielen. Ich will nur dort sein, wo meine Kompanie ist, und das, glaube ich, ist nur in Ordnung, oder nicht?«
»Mann ... aber ich glaube, Sie haben recht. Es ist eine verdammte Sache! Aber ich brauche Sie noch ... Stellen Sie sich vor, an Ihre Stelle würde so ein Heini kommen, wie Bevern, und das ist fast mit Sicherheit anzunehmen.«
»Sie würden schon mit ihm fertig werden, Herr Hauptmann. Im übrigen bin ich durchaus nicht bereit - nicht zurückzukommen. Ich komme wieder. Darauf können Sie sich verlassen. Schließlich bin ja auch ich ein alter Fuchs.«
Hauptmann Barth nagte nachdenklich, und wie es Obermeier schien, etwas niedergeschlagen an seiner Unterlippe. Dann sah er Obermeier an - und sah gleich wieder weg.
»Nun gut«, sagte er leise, »nun gut ... es tut mir leid ... wir haben uns trotz allem sehr gut verstanden ... ich mag Sie sehr gut leiden, Obermeier ...«, seine Gestalt straffte sich, und er lächelte Obermeier an: »Wir wollen nicht sentimental werden. Ich werde Ihnen den Befehl, daß Sie hierbleiben müssen, nicht geben ...«
Zu gleicher Zeit, als Barth mit Obermeier in Barssdowka über den bevorstehenden Einsatz der zweiten Kompanie sprach, bemühte sich Dr. Kukill in Berlin seit vier Stunden, eine Verbindung mit Orscha zu erreichen.
Er stand in der Heeresvermittlung neben einer Steckvermittlung, begleitet von einem SS-Gruppenführer, einem sehr guten Bekannten, dem er vor kurzem aus großer Verlegenheit geholfen hatte.
»Es muß doch möglich sein, Orscha zu erreichen!« sagte der Gruppenführer zu dem Soldaten an der Vermittlung. »Ich war zwar nie dort, aber dieses Kaff hat doch eine ziemlich große Bedeutung an unserer Front.« Und dann zu Dr. Kukill, der unruhig eine Zigarette nach der anderen rauchte und mit kurzen nervösen Schritten in dem Raum mit seinen vielen summenden Geräten herumlief: »Es wird schon klappen, Herr Doktor! Alles braucht eben seine Zeit. Bedenken Sie, welche Stellen wir in die Leitung einschalten müssen, um die Sprechbrücke zu erreichen. Wir schaffen es, Doktor, keine Bange!« Gutmütig stieß er den zusammenzuckenden Arzt gegen die Rippen.
»Ich hoffe, es wird nicht zu spät sein!« murmelte Kukill unruhig, und auf seiner Stirn bildeten sich Falten. Er setzte sich neben den Obergefreiten, der an der Steckvermittlung saß und angestrengt in seine Kopfhörer lauschte. »Vier Stunden dauert das schon. Ich muß wissen. Ich muß wissen, wie die Dosierung ist ... wir haben keine Zeit zu Experimenten .«