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In der ersten Abenddämmerung rückte die 2. Kompanie zur HKL ab. Es war noch Nachmittag, doch der graue Schleier der kommenden Nacht legte sich schon über die weiße, weite Ebene, mit dem dunklen Streifen des Waldes am Horizont.

Auch Oberfeldwebel Krüll war dabei - als Kompanietruppführer. Er wußte, wohin es ging, aber er dachte nicht daran. Warum auch? Es half nichts. Es half alles nichts. Jetzt war es soweit, und kein Mensch konnte etwas dagegen unternehmen. So trottete er mißmutig vor seinem Haufen her wie ein Ochse zum Schlachthof.

An diesem Nachmittag sah Tanja, wie eine Reihe deutscher Soldaten in weißen Tarnanzügen aus Barssdowka wegzog und bald danach in der Ebene untertauchte, in der Richtung gegen den Wald von Gorki. Sie ahnte nicht, daß unter ihnen auch Deutschmann war ...

Er ging als einer der letzten aus dem Dorf, zwei schwere Verbandstaschen über die Schulter gehängt.

Wiedeck stapfte vor ihm, ein blankgeputztes MG 42 in der Hand.

»Wie in alten Zeiten«, sagte er über die Schulter weg nach hinten. »Ich hab’ zwar was gegen die Sache, die wir erledigen müssen, aber nichts gegen die Spritze da. Und wenn du mich fragst, dann lieber mit so ‘ner Spritze durch das Land ziehen, auch wenn’s von den Rußkis wimmelt, als das sture Schanzen.«

»In fünf, sechs Stunden sprechen wir uns wieder«, brummte Schwanecke, der vor ihm ging, mit einer Maschinenpistole über der Schulter, Handgranaten hinter dem Koppel.

Aber Wiedeck hörte nicht hin. »Mensch, Ernst«, sagte er, »wenn die Sache klappt, dann ist’s vorbei mit diesem Scheißhaufen. Glaubst du, daß es mir gegen den Strich geht, hier zu dienen?«

»Wem geht es nicht?« fragte Schwanecke spöttisch.

»Ich kann dich verstehen«, sagte Deutschmann, um überhaupt etwas zu sagen. Er ging wie durch einen durchsichtigen, merkwürdig klaren Nebel, in dem alles, was um ihn herum geschah, seltsam deutlich, doch auch zugleich unwirklich und fern war. Er zwang sich, nicht an Julia zu denken. Er zwang sich, Wiedeck zuzuhören und ihn zu verstehen. Ja, er konnte ihn verstehen: Wie es auch war, ein Strafbataillon war die Einheit für Menschen, die sich gegen das Gesetz vergangen hatten. So sah er es jedenfalls, Wiedeck. Und was konnte für einen rechtschaffenen, ehrlichen Bauern schlimmer sein, als zu den Menschen gezählt zu werden, die sich gegen das Gesetz vergangen hatten? Seine Kinder sollten nie sagen: Mein Vater, der Verbrecher ... Welche Qual mußte das für ihn bedeuten! Wie konnte er noch seine Kinder Ehrlichkeit unter allen Umständen lehren, wenn er selbst ...? Daß es hier vor allem Menschen gab, die keine Kriminellen waren - wer wußte das schon? Aber es gab auch solche wie Schwanecke, die zu Recht bestraft wurden, auch wenn Schwanecke ein toller Bursche war, auf den man sich verlassen konnte. Gaben er und ihm ähnliche nicht den Ausschlag? Eine seltsame, unverständliche Welt!

»Wenn es klappt ...«, träumte Wiedeck weiter, »dann kommen wir zurück zu unseren Einheiten und ...«

»Und du glaubst das?« fragte Schwanecke spöttisch.

»Warum sollte ich nicht? Glaubst du, daß Obermeier lügt?«

»Nein, er nicht«, sagte Schwanecke. »Aber was kann schon

Obermeier gegen die anderen ausrichten?«

»Er hätte es nicht gesagt, wenn es nicht wahr wäre!« sagte Wiedeck mit Überzeugung. Wenn ein Offizier wie Obermeier bewußt lügen würde, dann - ja, dann ... woran konnte man dann noch glauben? Das konnte nicht sein! Wiedeck glaubte es, er glaubte, daß alles gut ausgehen würde, er glaubte, daß er zurückkommen würde und daß er dann wieder frei sein würde. Frei ... Er würde Urlaub bekommen und nach Hause fahren, plötzlich vor der Tür stehen ... mit Schulterklappen und Auszeichnungen ... wie sah wohl der Kleine aus? Und er wiederholte bei sich Obermeiers Worte, als sie auf der Straße vor der Schreibstube angetreten waren, kurz bevor sie abrückten.

»Männer«, hatte Obermeier gesagt, als er aus der Schreibstube gekommen war, einer von ihnen, genauso aussehend wie sie alle, im weißen Tarnanzug, mit einer umgehängten Maschinenpistole, Handgranaten hinter dem Koppel, »Männer, wir heißen: Bewährungsbataillon 999. Jetzt endlich ist es soweit: Wir sollen uns bewähren, und zwar über das übliche Maß hinaus. Wir machen einen Erkundungsvorstoß hinter die russischen Linien. Eine gefährliche Sache, ich weiß. Die Gruppenführer werden euch Näheres darüber sagen. Was ich jetzt noch zu sagen habe, ist folgendes: Jeder, der zurückkommt, wird sofort zu seiner alten Einheit versetzt und bekommt seinen ehemaligen Rang und seine Auszeichnungen zurück. Dann ist es aus mit dem Bewährungsbataillon, dem Strafbataillon, wie ihr, oder seien wir ehrlich, wie wir unseren Haufen nennen. Ich weiß: Vielleicht werden wir nicht alle zurückkommen. Wir wollen uns da nichts vormachen. Aber es liegt an uns selbst, ob und wie schwer unsere Verluste sein werden. Einzig und allein an uns selbst. Ich glaube, wir verstehen uns. Ich selber wurde zu dieser Einheit kommandiert. Weil ich aber glaube, zu euch zu gehören, gibt’s für mich nichts anderes, als mitzukommen. Das ist klar. Und ich komme auch zurück, darauf könnt ihr euch verlassen. Ich hoffe, übermorgen sehen wir uns alle wieder hier, so wie wir jetzt hier stehen. Und dann wollen wir einige Pullen leertrinken - auf den glücklichen Ausgang und -zum Abschied!«

»Ein toller Kerl!« sagte Wiedeck.

»Wer?«

»Obermeier.«

»Daß du dich man nicht täuschst ...«:, brummte Schwanecke, aber dann gab er sich einen Stoß und grinste über die Schulter: »Du hast schon recht. Er ist in Ordnung.«

Ja, Obermeier war in Ordnung, dachte Schwanecke. Schwer in Ordnung. Wenn alle anderen so wären ... Wenn er selbst, Schwanecke, sich mit dem Oberleutnant nicht so gut verstand, dann war das eigentlich seine, nicht Obermeiers Schuld. Und plötzlich - wie schon so oft und immer öfter in letzter Zeit, tat es Schwanecke fast schmerzhaft leid, daß er ein Außenseiter war und auch in Obermeier und anderen anständigen Leuten seine Gegner sehen mußte. Sie waren es, daran konnte man nicht rütteln - und es war ein Elend, daß es so war. Wieviel schöner wäre es, wenn sie alle am gleichen Strang ziehen würden - er, Obermeier, Wiedeck, Deutschmann. Verdammt, dachte er, es ist eine verfluchte Sache ... zu spät -!

So zog die 2. Kompanie, leise mit den Waffen klappernd, durch die heraufdämmernde Nacht, Phantomen gleich, die sich kaum von der grauweißen Fläche rundherum abhoben.

Vorneweg, neben Unteroffizier Hefe - Oberleutnant Obermeier. Mit der zweiten Gruppe Oberfeldwebel Krüll. Dann Unteroffizier Kentrop. Und andere, in einer langen, langen Reihe. Bartlitz, der ehemalige Oberst. Ein degradierter Major.

Ein Musiklehrer. Ein Rechtsanwalt. Ein Taschendieb. Ein Studienrat. Ein Architekt und wieder ein Rechtsanwalt. Ein Sittlichkeitsverbrecher. Ein Zuhälter. Ein Homosexueller. Ein Bauarbeiter. Ein Metzger. Ein Oberregierungsrat. Ein Einbrecher. Ein ehemaliger Kreisleiter. Ein Arzt ...

Vor ihnen, wo die HKL lag, war die Nacht dunkel und schweigsam. Frost. Eine Leuchtkugel. Und plötzlich das Rattern eines MGs.

An ihrem Dachfenster stand Tanja und sah hinter der schweigenden Kolonne her, als sie schon lange nicht mehr zu sehen war. Und dann sah sie noch eine ganze Weile hinüber nach Barssdowka, und ein kaum sichtbares, trauriges Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie leise flüsterte: »Gute Nacht, Michael, schlaf gut ... schlaf gut -!«

In der HKL wechselte Obermeier mit dem jungen Leutnant der Infanterie einige Worte. Der Leutnant wußte Bescheid. Sie verglichen noch einmal ihre Uhren und sahen dann lange und schweigend zu den russischen Linien.

»Haben Sie keine Angst, daß die Hälfte Ihrer Leute überläuft?« fragte der Leutnant schließlich.

»Warum?«

»Na ja, was man so hört ... es sind ja schließlich Verbrecher ... Kommunisten ...«

»Sie müssen es ja wissen«, sagte Obermeier, und der Ton seiner Stimme ließ den Leutnant verstummen.

»Noch zwanzig Sekunden«, sagte Obermeier nach einer Weile zu dem dumpf vor sich hinbrütenden Krüll. Er hatte die Uhr mit dem Leuchtzifferblatt dicht vor die Augen gehalten. »Noch 15 - 10 - 5 - ‘raus!«