Orscha andere Sorgen. Jaja, aufgerieben! Nichts mehr übrig davon, Ende?
Ende!
Aufgerieben also, sagte Dr. Kukill leise vor sich hin, als er den Telefonhörer wieder auflegte. Aufgerieben - also wahrscheinlich tot oder in Gefangenschaft geraten, was soviel wie tot bedeutete. Er wußte nicht, was er darüber denken sollte. Es war klar, daß er dies Julia einstweilen verbergen mußte, bis sie außer Gefahr war. Dann konnte man weitersehen. Gut, er hatte sich alle Mühe gegeben. Er hatte alles getan, was in seiner Macht stand. Er hatte alles in die Wege geleitet, um Deutschmann wieder nach Berlin zu holen. Das war nicht gelogen. Wenn es aber so war ... wenn Deutschmann tot war, dann war es nicht seine Schuld. Und ... Julia wird es überwinden, sagte er sich. Vielleicht nicht so schnell, vielleicht wird sie noch ein Jahr lang trauern, vielleicht auch zwei - aber es gab keine Wunde, die mit der Zeit nicht heilte. Er mußte ihr Zeit lassen. Er mußte ihr ein guter, achtungsvoller Freund sein und sie behutsam wieder ins Leben führen. Dann - dann würde sie eines Tages erkennen, daß sie sich in ihm getäuscht hatte und dann ... dann ...
»Kommen Sie, gehen wir«, sagte er zu dem Gruppenführer, der mit ausgestreckten Beinen in glänzend polierten Stiefeln auf einem Stuhl saß.
»Was ist los?« fragte er.
Dr. Kukill zuckte mit den Schultern. »Aufgerieben. Wahrscheinlich.« Er brauchte nichts weiter zu sagen. Der andere hatte ihn verstanden.
Durch Barssdowka rollten russische Panzer.
Von der einen Seite hatten sie die deutschen Stellungen aufgerollt, von der anderen Seite, vom Wald her, strömten die Partisanenverbände Denkows, mit ihm und Tartuchin an der Spitze, in das Dorf.
Stabsarzt Dr. Bergen und Kronenberg waren mit einem Teil der Verwundeten noch rechtzeitig weggekommen. Mit den letzten Fahrzeugen waren sie nach rückwärts gerast, über die Artilleriestellungen hinaus - etwas verwirrt und beruhigt zugleich über nur geringe Anzeichen der Nervosität bei den Artilleristen. Wie oft hatten sie solche panikartigen Erscheinungen schon durchexerziert! Ein russischer Einbruch? Unangenehm -und was weiter? Von rückwärts kamen bereits die ersten, in Eile zusammengerafften Reserven, um zum Gegenstoß anzutreten.
Und als Dr. Bergen, mit seiner Kolonne an den Straßenrand gedrängt, in die grimmigen, unbeweglichen Gesichter der Soldaten eines Sturmbataillons sah, die in ihren Kübelwagen langsam über die zerfahrene Straße in Richtung Front schaukelten, mit Maschinengewehren, Maschinenpistolen und Gewehren zwischen den Knien, abenteuerlich und gefährlich aussehend in ihren weißen Tarnjacken mit weiß gestrichenen Stahlhelmen, da fragte er sich ein bißchen beschämt, ob seine überstürzte Flucht gerechtfertigt war.
Sie war es.
Die Russen kamen zwar nicht weit über Barssdowka hinaus, doch dort und anderswo, besonders aber dort, wo die Partisanen hinkamen, verbreiteten sie grollend und vom Blutrausch besessen den eisigen Schreckenshauch des Todes.
Unterarzt Dr. Hansen war in Barssdowka geblieben, bei den nicht transportfähigen Verwundeten, in Mehrzahl Kopf- und Bauchschüsse. Zu den Verwundeten seines eigenen Bataillons hatten sich noch einige aus den Infanterie-Einheiten zugesellt, die aus ihren Stellungen geworfen worden waren. Die Scheune war halbvoll, sie lagen still, mit großen, erschrockenen Augen gegen die Tür starrend, durch die jeden Augenblick die Russen kommen konnten. Zwischen den Betten und Strohsäcken ging Dr. Hansen hin und her, Ruhe und Zuversicht zusprechend und ausbreitend, Trost spendend und Linderung schaffend.
Über dem Eingang hing eine große Rot-Kreuz-Fahne, schwer und unbeweglich in der ruhigen, stillen Luft.
Und plötzlich hörte man sie kommen.
Schon eine ganze Weile hörten die Verwundeten die dröhnenden Panzermotoren und vereinzelte Schüsse. Jetzt aber hörten sie ihre Stimmen, kurze, heisere Ausrufe und dann ein langes, langanhaltendes, lautes Lachen.
Dr. Hansen nickte den Verwundeten zu und ging langsam zur Tür.
Tartuchin war der erste, der den Arzt in seinem weißen Kittel in der Tür stehen sah. Er verharrte einen Augenblick, hob seine Maschinenpistole und jagte eine kurze Garbe in das Tuch der Rot-Kreuz-Fahne über Hansens Kopf. Dann grinste er, doch plötzlich vereiste das Grinsen auf seinem breiten Gesicht, und er duckte sich zusammen: Hier waren noch deutsche Soldaten! Vielleicht traf er auch IHN, seinen großen Feind, unter ihnen. Verwundet? Egal, vielleicht hatte er sich unter die Verwundeten gemischt, vielleicht war er selbst verwundet, vielleicht ... und wenn er ihn nicht fand ... Gut! Hier, an diesen verfluchten Deutschen konnte er seinen Haß stillen. Nicht für immer, nicht einmal für lange Zeit, nur so lange, bis er neue fand. Was tat es, daß es Verwundete waren? Bevor sie verwundet wurden, hatten sie auf seine Brüder geschossen, hatten sie sie getötet, hatten sie ... jetzt werden sie das büßen!
Angespannt, mit vorgebeugtem Körper ging er gegen die Scheune, gegen den kleinen, schmächtigen Arzt, der mit unbewegtem Gesicht, ihm ruhig entgegenblickend, vor der Tür stand und den Weg in die Scheune versperrte.
»Idi!« Geh! sagte er, als er vor dem Arzt stand.
»Du bist ...«, begann der Arzt, der den ehemaligen Hilfswilligen erkannt hatte, aber Tartuchin unterbrach ihn ungeduldig: »Geh - geh!«
»Nein!« sagte der Arzt und rührte sich nicht von der Stelle.
»Nein?« wiederholte Tartuchin, und über sein Gesicht huschte ein schnelles, böses Lächeln. »Nein? Nein?«
Langsam, überlegend und - Dr. Hansen sah es: tödlich entschlossen hob er die Maschinenpistole, bis ihr Lauf dem Arzt genau gegen die Brust zielte.
»Nein?« sagte er wieder. »Nein?«
Es gab keinen Zweifel - Tartuchin würde schießen, wenn ihm der Arzt nicht aus dem Weg ging. Und doch rührte sich Dr. Hansen nicht.
In diesen wenigen, kurzen Augenblicken wuchs der junge, schmächtige Arzt über sich selbst hinaus. Er hatte eine tödliche, entsetzliche Angst, die sein ganzes Inneres zusammen-krampfte, die Haut auf seinem Körper zusammenzog - aber nichts davon drang nach außen. Ruhig, still, mit verschlossenem und ein bißchen hochmütig wirkendem Gesicht stand er vor Tartuchin, der jetzt wieder zu lächeln begann - ein breites Grinsen, das den Tod ankündigte.
»Stoj!« hörte man von der Straße her eine laute, befehlende Stimme. Tartuchins Grinsen erstarrte, dann wandte er den Kopf halb zur Seite und blickte über die Schulter mit bösem Blick gegen die Stimme.
Sergej Denkow kam langsam näher. Die Maschinenpistole hielt er unter den Arm geklemmt.
»Was willst du?« fragte er auf russisch, als er zu Tartuchin und Dr. Hansen kam.
Tartuchin zuckte mit den Schultern.
»Los, was willst du?« fragte Denkow wieder, und seine Stimme hatte jetzt einen scharfen Klang bekommen.
»Er will mich nicht ‘rein lassen«, sagte Tartuchin.
»Und du wolltest ihn umlegen, was?«
»Er ist ein Deutscher«, sagte Tartuchin.
»Kennst du ihn länger?« fragte Denkow leise, ohne den Blick von Tartuchin zu wenden, der jetzt unbehaglich zur Seite blickte.
»Los, kennst du ihn länger?«
»Ja.«
»Was hältst du von ihm?«
»Er ist ein Deutscher!«
»Und du bist ein Schwein!« zischte Denkow. »Du bist um keinen Deut besser als die Deutschen. Was hat er dir getan? Was hat er einem von uns getan? Nichts! Er hat unsere Bauern geheilt, als sie krank waren, und wenn ich mich recht erinnere, hat er auch dich einmal verbunden. Und du willst ihn töten! Verschwinde. Los, hau schon ab!«