Tartuchin trollte sich schweigend, mit einem bösen verbissenen Gesicht davon.
»Danke«, sagte Dr. Hansen aufatmend.
»Schon gut«, sagte Denkow, noch vor Wut kochend. »Geh mir jetzt aus dem Weg.«
»Was wollen Sie tun?«
»Du sollst mir aus dem Weg gehen!«
Dr. Hansen trat beiseite und sagte: »Wenn Sie nicht gekommen wären .«
Denkow, der an ihm vorbei in die Scheune treten wollte, blieb stehen, drehte sich zu ihm und sah ihn lange an. Dann sagte er: »Dann wären alle die ...«, mit dem Kopf zeigte er gegen die Scheunentür, hinter der die Verwundeten lagen, »... alle die tot. Ich weiß. Sehr oft kommt niemand dazu, um es zu verhindern. Es gibt solche und solche. Bei euch und bei uns. Kommen Sie mit!«
Die Verwundeten kamen in Gefangenschaft, Dr. Hansen an ihrer Spitze.
Auch das Haus der alten Marfa überrollte der Krieg. Die Panzer fuhren in einer langen, dröhnenden Kolonne daran vorbei. Tanja stand am Fenster und sah mit leeren Augen auf die Stahlkolosse. Sie haben mir meinen Michael genommen, dachte sie in grenzenloser Traurigkeit. Sie haben mir das Glück genommen ... ich hasse sie ... ich hasse sie!
Aber sie wußte eigentlich nicht, wen sie damit meinte. Die Deutschen? Die Russen? Den Krieg zwischen den Deutschen und Russen? Ihr Schicksal - oder ihre Schwäche und ihre Liebe dem deutschen Soldaten gegenüber?
Sie blickte sich nicht um, als sie hinter sich die Tür aufspringen hörte und ein eisiger Luftzug ins Zimmer kam. Aber auch ohne hinzusehen, wußte sie mit Sicherheit, wer gekommen war. Einen kleinen Augenblick lang hatte sie die unsinnige Hoffnung, sie wurde sich irren. Aber als sie Denkows Stimme hörte, wußte sie, daß es vergeblich war zu glauben, sie könnte ihm entkommen.
»Du?« fragte Denkow heiser.
Tanja lehnte die Stirn gegen die eisige Scheibe.
»Dreh dich um!«
»Warum? Du bist gekommen, um mich zu töten. Also tu’s!«
»Was tust du hier bei den Deutschen?« Denkows Stimme zitterte. Sie hörte seine Schritte näher kommen. Seine Hand riß sie herum.
»Seit wann ist Marfa eine - Deutsche?« fragte sie spöttisch.
Er starrte schweigend, mit harten, unbarmherzigen Augen in ihr Gesicht.
»Tu’s schon - frag nicht soviel!« sagte sie.
»Du bist ihm nachgelaufen, was? Du hast hier mit ihm geschlafen, während wir ...« Jetzt schüttelte er sie und schrie ihr ins Gesicht: »Warum hast du das getan? Warum?«
»Ich liebe ihn«, sagte Tanja schlicht. Sie schloß die Augen und flüsterte: »Kannst du das nicht verstehen?«
Denkow zögerte. Er wußte nicht, was er tun sollte. Draußen vor der Tür und durch das eroberte Dorf stürmten johlend und lachend seine Leute. Fanatische Hasser, in diesen Augenblik-ken blutgierige Bestien, die nach versteckten deutschen Soldaten suchten. Jetzt haßte er sie beinahe und haßte seine Aufgabe, sie zu befehligen. Er war ein Offizier. Er war nicht einer von denen. Es stimmte: Man mußte die Deutschen hassen, wenn man sie vertreiben wollte - aber man durfte keinen Augenblick vergessen, ein Mensch zu sein. Man mußte die Schuldigen bestrafen, je härter, desto besser. Aber man durfte nicht ehrlos werden. Die Schuldigen ... dachte er. Auch Tanja war schuld!
Die Tür ging krachend auf, und der riesige Mischa Serkono-witsch Starobin stürzte in das alte Haus. Seine Augen leuchteten, als er mit breitlachendem Gesicht schrie: »Genosse Oberleutnant- die Deutschen sind erledigt! Wir haben sie vertrieben - wir können die Wälder verlassen!« Erst jetzt sah er Tanja und blieb mit offenem Mund stehen. »Du?« fragte er langgedehnt.
Ein Schauer flog über Tanjas Rücken, als sie dieses Du hörte. Sie war bereit zu sterben, aber hinter diesem Laut verbarg sich nicht nur der Tod.
»Was willst du mit ihr machen, Genosse Oberleutnant?« fragte Starobin. Er wischte sich über das schweißnasse Gesicht.
»Was soll man mit ihr machen?« fragte Sergej.
»Sie ist eine Verräterin!« schrie Starobin, aber seine kalt abschätzenden Augen teilten die Empörung, die er spielte, nicht mit.
»Ja ...«:, sagte Denkow schwer, »ja .«
»Gib sie mir!« sagte Starobin.
Tanja wich langsam an die Rückwand des Zimmers. Die Blicke der vier Augen, die sich an sie hefteten, waren das Grauenhafteste, was sie je gesehen hatte. »Nein«, flüsterte sie, »- tötet mich, aber nicht das, nicht das!«
»Gibst du sie mir?« fragte Starobin wieder. »Los, gib sie mir
- die Sache ist klar, sie ist eine Verräterin!«
»Ja. Die Sache ist klar«, sagte Denkow langsam, drehte sich um und ging aus dem Zimmer.
In diesem Augenblick setzte der deutsche Gegenstoß ein.
Es war ein magerer Angriff - aber er wurde geführt mit der verzweifelten Wut der Soldaten, wie sie nur aus Angst und Furcht und aus Selbsterhaltungstrieb entspringen kann.
Mit leichter Flak auf Selbstfahrlafetten, mit einigen Sturmgeschützen und Panzerabwehrkanonen, mit geballten Ladungen und Handgranaten gingen die ungenügenden Reserven und die in Eile gesammelten, versprengten Verbände gegen die Russen vor. Es war klar: Wenn es den Russen gelang, hier durchzubrechen, den Einbruch zu erweitern und nach Westen vorzustoßen, dann bestand nicht nur Gefahr für Einkesselung großer deutscher Verbände, sondern auch Gefahr für die ganze deutsche Front. So schickte sogar die Luftwaffe einige Sturzkampf-, Schlacht- und Jagdflugzeuge zur Unterstützung der in schwere Kämpfe verwickelten Infanterie.
Die Sowjets gingen zurück. Einige Panzer brannten. Die restlichen walzten die alten Wege nach hinten noch einmal flach, überrollten die ehemalige deutsche Stellung und verschwanden hinter den Wäldern, von wo sie gekommen waren. Schwere Straßenkämpfe um die verlorenen Ortschaften entbrannten, oft von Haus zu Haus in verbissenen Nahkämpfen. Die fanatischen, doch unausgebildeten Partisanen des Oberleutnants Denkow hatten schwere Verluste - bis sich die restlichen wieder in die schützenden Dickichte und in die Erdbunker des Waldes von Gorki verkrochen.
Starobin und seine Gruppe blieb am Leben und schleppte Tanja mit - hinter die alten russischen Linien.
Die verlorenen deutschen Stellungen wurden wieder besetzt und von der sowjetischen Infanterie gesäubert. So war das Ganze wie ein Spuk, der aus der Dunkelheit der Nacht hervorgebrochen war, beim Einbruch der nächsten Nacht wieder zerstoben, nur die ausgebrannten russischen Panzer und einige deutsche Sturmgeschütze sowie über die Ebene verstreute Leichen zeigten, daß vor kurzem hier eine wütende Schlacht getobt hatte.
Krüll hatte Glück.
Als der deutsche Gegenangriff begann, lag er in einem flachen Granattrichter im ehemaligen Niemandsland zwischen der deutschen und der russischen HKL. Bis dorthin hatte er sich langsam, nach und nach vorarbeiten können, kriechend, Meter um Meter, immer weiter über die Ebene, die ihm keine Dek-kung bot. Er hatte sehr viel Umsicht und Geduld gezeigt - aber nicht aus bewußter Überlegung, sondern einfach aus Angst. Er hatte Angst, den Kopf zu heben und um sich zu sehen. Er hatte Angst aufzustehen und loszurennen, wie es die anderen getan hatten. So kroch er - und das rettete ihm das Leben.
Als die russischen Panzer und die Infanterie vor dem deutschen Angriff zurückzufluten begannen, lag er in seinem Trichter und spielte den toten Mann. Ab und zu hörte er hastende Schritte und aufgeregte Worte der Russen, die an ihm vorbeiliefen, um ihre alten Stellungen zu erreichen. Er rührte sich nicht, er rührte sich auch dann nicht, als nahe an ihm ein rasselndes, dröhnendes Ungetüm vorbeifuhr, ein Panzer, und alles in ihm vor Angst und vor Verlangen aufzuspringen und blind davonzulaufen, schrie; doch die gleiche Angst lahmte ihn, ließ ihn kaum atmen und blieb in seinen Knochen auch dann stek-ken, als sich das Motorengebrumm des Panzers entfernt hatte und schließlich verstummt war.