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Welt von Forschern seit Jahren umsonst sucht. Das war es, was ich vor dem Gericht ausgesagt habe. Es war und ist meine ureigenste Überzeugung. Welches Interesse sollte ich denn daran haben, Ihren Mann - übrigens, haben Sie es schon mit einer Revision versucht?«

»Ja«, sagte Julia.

»Und?«

»Man sagte mir - es war ein SS-Mann - man sagte mir ...«:, sprach sie stockend, als fürchtete sie sich vor dem, was sie sagen mußte, oder vor der Erinnerung an den Mann, der es ihr gesagt hatte, »- sollte der Fall Deutschmann in eine Revision gehen, dann stünde am Ende eines neuen Prozesses das Fallbeil.«

Schweigen.

Dr. Kukill zündete sich eine Zigarette an. »Wieso ein SS-Mann?« fragte er dann.

Julia zuckte mit den Schultern.

»Und - was wollen Sie jetzt tun?«

Sie sah ihn an. Ihre Augen waren groß, schwarz, fiebrig.

»Kann man nichts tun?« fragte sie leise, mit zitternder Stimme. Sie stand auf, ging um den Tisch, klammerte sich an seinem Oberarm fest, während er hilflos sitzen blieb, erschrocken und wider seinen Willen von ihrem Leid und ihrer Verzweiflung mitgerissen. »Sie können etwas tun - Sie können es sicher - bitte - es hängt nur von Ihnen ab, ich weiß es - zu wem soll ich sonst gehen? - Sie können sagen, daß es ein Irrtum war, er wird dann zurückkommen - bitte, bitte, tun Sie etwas -«

Er versuchte, sie zu beruhigen, aber er sah, daß sie ihn nicht hören wollte, daß sie nicht glauben wollte, Ernst sei verloren, daß man nichts mehr für ihn tun konnte - nicht, nachdem sich die Schranke des Strafbataillons hinter ihm geschlossen hatte. Sie standen sich gegenüber, und als er ihr gesagt hatte, daß er für ihren Mann nichts tun konnte, sah er sie schweigend an und dachte wieder, daß sie von jener fraulichen Schönheit war, die man nicht genießt, sondern verehrt und anbetet, einer Schönheit, der Leid und Verzweiflung nichts anhaben, sondern sie nur vertiefen konnten - und ein kleiner, scharfer Gedanke schoß ihm durch den Kopf: Er wird nicht wieder zurückkommen. Dann ...

»Doch«, sagte sie nach einer Weile und sah ihn weiter an, sah durch ihn hindurch, nicht mehr hier in diesem Zimmer mit dem Mann, der sich gespannt und plötzlich seltsam erregt vorbeugte und sie anstarrte. »Doch«, wiederholte sie, »es gibt eine Möglichkeit. Ich war bei all seinen Versuchen dabei. Ich habe alle seine Aufzeichnungen. Ich werde weitermachen. Ich werde seine Versuche wiederholen. Und wenn es sein muß, auch den Selbstversuch. Ich werde .«

»Um Gottes willen!« rief Dr. Kukill aus.

»... ich werde beweisen, daß er recht gehabt hatte. Und dann wird man ihn herausholen und ihn weiterarbeiten lassen. Dann .«

»Das wäre - um Gottes willen, es könnte Ihr Tod sein!« Dr. Kukill sah die Frau vor ihm erschrocken an.

»Bitte, lassen Sie mich jetzt gehen«, sagte Julia.

An diesem Abend, als Julia Deutschmann wie gejagt in ihre Wohnung zurückhastete, den Mantel achtlos über einen Sessel warf, in das rückwärts gelegene Laboratorium ihres Mannes lief, einen weißen Kittel überwarf und die durcheinandergeworfenen Aufzeichnungen zu ordnen begann, geschah im Lager »Friedrichslust« bei Posen, dem Stammsitz des Strafbataillons 999, folgendes:

Oberleutnant Wernher, Kompaniechef der 1. Kompanie, ritt über den Kasernenhof: eine einsame, stumme, dunkle Reitergestalt mit lose umgeworfenem Regenumhang. Die Pferdehufe knirschten auf dem Kies. Er war auf dem Weg zu einer deutsch-polnischen Gutsbesitzerin, die trotz ihrer Jugend bereits Witwe war; ihr Mann war im Polenfeldzug gefallen.

Hauptmann Barth, Bataillonskommandeur, saß in seinem Zimmer unter einer Stehlampe und las »Tom Sawyers Abenteuer«. Seine Füße in Socken baumelten über die Sessellehne, manchmal lächelte er. Dann wurde sein Gesicht fast jungenhaft, frei und gelöst.

Oberfeldwebel Krüll stapfte mit dem Stahlhelm auf dem Kopf über den Kasernenhof. Manchmal übersprang er eine Pfütze, einmal blieb er stehen und sah gegen den Himmel. Wahrscheinlich war er auf dem Wege in die Mannschaftsunterkünfte, um seinen allabendlichen Budenzauber zu veranstalten.

Oberleutnant Obermeier folgte ihm eine Weile mit dem Blick. Dann drehte er sich um, zog das Verdunkelungsrollo vor das Fenster, tastete sich durchs Zimmer, knipste Licht an und schloß einen Augenblick geblendet die Augen. Er goß sich ein halbes Glas voll Hennessy ein und trank den scharfen Kognak in einem Zug herunter. Er hatte beschlossen, sich heute abend zu betrinken.

In den Unterkünften erwartete man die Ankunft des UvD, sich besorgt fragend, welche Stube heute an der Reihe war, Krülls Bedürfnis nach Abwechslung zu befriedigen.

Dies war, wie kaum anders zu erwarten, die Unterkunft, in die die vier Neuankömmlinge eingeteilt waren.

Krüll fand zuerst auf dem Boden unter dem letzten Bett einen Kieselstein, vielmehr ein etwas größeres Sandkorn. Er hob es auf, zwischen dem Daumen und Zeigefinger haltend, mit weitgespreizten restlichen Fingern, und ließ es wieder wortlos auf den Boden fallen.

Er sagte nichts.

Dann stellte er schweigend einen Schemel vor einen Spind und fuhr mit dem Zeigefinger oben hin und her, doch er fand keinen Staub. Aber er fand ihn auf einem Deckenbalken und auf einem Fensterrahmen und schmierte ihn dem strammstehenden Stubendienst - dies war der frühere Oberleutnant Stub-nitz, den er heute schon einmal über den Hof gejagt hatte -über die Wangen, über die Stirn, über die Nase, kreuz und quer, in schönen, gleichmäßigen Karos.

Dabei sagte er immer noch nichts.

In der Stube herrschte lähmendes, schweres Schweigen, nur Krülls Schritte über den knarrenden Boden und hin und wieder sein verächtliches Schnauben durch die Nase waren zu hören. Niemand rührte sich: Zweiundzwanzig Männer lagen lang ausgestreckt auf dem Rücken, mit den feuchtriechenden Decken bis zum Kinn zugedeckt, die Arme an den Körper gedrückt, Knie und Füße zusammengepreßt - gewissermaßen »stillgestanden« im Liegen - und warteten auf das Unausweichliche. Aus der Ecke kam das schwere, rasselnde Atmen des Schützen Reiner, gewesenen Dr. Friedrich Reiner, Rechtsanwalt in München, seit 1939 Insasse des Konzentrationslagers Dachau, seit Frühjahr 1943 zum Strafbataillon 999 begnadigt: Er litt an Asthma.

Als Krüll meinte, Schütze Stubnitz sähe kariert genug aus, begann er mit der Spindkontrolle. Aus dem ersten warf er nur das Waschzeug auf den Boden, den zweiten leerte er ganz aus, den dritten und vierten ließ er stehen, aus dem fünften warf er die Wäsche, den sechsten räumte er ganz aus.

Dabei sagte er immer noch nichts.

Der siebente Spind gehörte Karl Schwanecke.

Als Krüll ihn öffnete, prallte er zurück: Der Spind war tatsächlich eine Katastrophe. Das einzige, was ordnungsgemäß, das heißt, in militärischer Ordnung angebracht war, waren Bilder nackter Mädchen auf der Innenseite der Tür.

Krüll unterdrückte seine Neugierde, beschloß gleichzeitig, sich die Bilder einmal in Ruhe anzusehen, und jagte die Männer aus den Betten. An sich hatte er vorgehabt, vor der Gymnastik auf dem nachtdunklen Kasernenhof noch die Füße der Liegenden anzusehen. Er verzichtete darauf und ließ dafür alle zweiundzwanzig an Schwaneckes Spind im Paradeschritt vorbeimarschieren und »die Augen links« machen.

Dann jagte er sie auf den Hof.

Es dauerte etwa eine halbe Stunde: Komisch anzusehende, in ihrer unfreiwilligen Komik tragische Männergestalten in kurzen Nachthemden, mit klappernden Holzpantinen an den Füßen, jagten aufgescheuchten, weißen Nachtvögeln gleich über den Kasernenhof, übten Entengang, Hasensprünge, Froschhüpfen.

Als es zu Ende war, waren drei Männer dem Herzzusammenbruch nahe: der asthmatische ehemalige Rechtsanwalt,

Deutschmann und von Bartlitz; andere waren nur noch halb ohnmächtige, wankende, leichenblasse, schwitzende, mit Dreck bespritzte Gespenster. Alle, außer Schwanecke: Schwanecke machte es anscheinend nichts aus. Er grinste und verfluchte grinsend den Oberfeldwebel und mußte deshalb einige Extrarunden drehen. Aber das Grinsen verging ihm nicht. Es verging ihm nie, auch später nicht.