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Er war ein glaubwürdiger Toter: Seine Tarnjacke war voller Blut - aber das Blut stammte nicht von ihm, sondern von Un-teroffizier Kentrop. Eine deutsche Granate hatte diesem den halben Brustkorb weggerissen, als die eigene Artillerie Sperrfeuer schoß. Mit letzter Kraft hatte er sich in einen Granattrichter geschleppt - und dort fand ihn Krüll, auf seinem Kriechgang über das freie Feld. Kentrop lebte noch, aber Krüll, der Deckung suchte, schob ihn auf den Rand des Trichters und blieb so eine Weile, halb unter dem verblutenden Kentrop verborgen liegen - bevor er wieder weiterzog.

Als die letzten Russen vorbeigezogen waren und lange, lange nichts zu hören war, wagte er endlich den Kopf zu heben.

Die Ebene schien leer zu sein, und die erste Dämmerung färbte den Schnee und den Himmel grau. Er wartete, bis es Nacht war, dann kroch er weiter. Er hatte keine Schmerzen mehr in den gefühllos gewordenen Füßen, wie noch zwei oder drei Stunden vorher. Er war ruhig, und die Angst war von ihm gewichen. Aber er stand nicht auf, um gegen die nahen deutschen Gräben zu laufen. Er kroch weiter - und als er endlich ankam und aufstehen wollte, von einigen Landsern des Sturmbataillons umringt, brachte er es nicht mehr fertig. Er sackte wieder in sich zusammen und flüsterte mit gefühllosen, harten Lippen erstaunt: »Was ist denn, was ist los?«

»Nichts ist los, du bist wieder zu Hause, Kumpel!« sagte ein Landser und gab ihm zu trinken. Schnaps. Es rann wie Feuer durch Krülls Adern, und er versuchte noch einmal aufzustehen. Aber es ging nicht. Seine Beine wollten ihn nicht tragen.

Krüll hatte eine Nacht und einen Tag in der unbarmherzigen Kälte verbracht. Als er zurück »nach Hause« kam, waren seine beiden Füße erfroren, einer mußte später amputiert werden.

Auch Deutschmann und Schwanecke entkamen dem Gemetzel.

Als die russischen Panzer in der Ferne, gegen Barssdowka verschwanden und die russische Infanterie in immer neuen

Weilen hinter ihnen gegen Westen zog, krochen sie tiefer in den Wald und versteckten sich in einer Bodenmulde, die sie notdürftig vom Schnee säuberten.

»So«, sagte Schwanecke, »das hätten wir geschafft. Hier kann man es aushalten.«

»Wie lange?« fragte Deutschmann.

»Ewig.« Schwanecke zuckte mit den Schultern. »Bis die Luft rein ist. Du hast gesehen, die Russen sind durchgebrochen, und wenn sie schlau genug sind, dann rollen sie weiter, bis Berlin ...«

»Mach dich nicht lächerlich!«

»Was glaubst du denn? Nee, nicht ganz bis Berlin«, verbesserte er sich dann, »unsere sind auch nicht dumm, und die Russen sind nicht sehr oft schlau, verstehst du? Sie sind große Krieger, aber hier oben, verstehst du -«, er zeigte gegen den Kopf, »- hapert es manchmal. Sie hauen drauflos, immer ‘ran wie Blücher, boxen sich durch und fallen wie die Fliegen - wo ein schlauer General so ‘ne Umgehung machen würde und einen Kessel und so, verstehst du?«

»Ich bin kein General«, sagte Deutschmann überdrüssig. Er wollte Ruhe haben, er wollte nachdenken, aber dieser Schwätzer mußte immer reden und reden ... Warum war er eigentlich hier?

»Nee - und du wirst es auch nie werden«, sagte Schwanecke behaglich. »Du kannst höchstens ein prima Professor werden oder sonst was - aber nie ein General.«

»Das ist mir auch recht.« Deutschmann fischte in seinen Taschen nach Zigaretten, holte eine heraus und wollte sie anzünden. Doch ein heftiger Schlag auf die Hand schleuderte die Zigarette und die Streichhölzer in den Schnee, und als er überrascht aufblickte, sah er gerade in Schwaneckes böse, drohende Augen.

»Bist du verrückt - du Idiot?! Hier rauchen, was?«

»Na, hör mal ...«, begann Deutschmann, aber Schwanecke schnitt ihm das Wort ab.

»Schnauze!« Und nach einer Weile unbehaglichen Schweigens: »Siehst du - deshalb kannst du nie ein General werden, obwohl es auch dämliche Generäle gibt, und eine Menge dazu! Wenn du hier qualmst ... na, was glaubst du?«

»Jaja ...«, sagte Deutschmann. Schwanecke hatte recht. »Was wollen wir jetzt machen? Was hast du vor?«

»Abwarten«, sagte Schwanecke lakonisch. »Wenn die Russen weit genug vorgestoßen sind, dann kommen die Trosse, verstehst du? Alte Knacker, die keine Wut im Bauch haben, so wie die vorne oder die Scheißpartisanen. Dann erkunden wir die Lage, und wenn sie günstig ist, heben wir die Hände hoch und ergeben uns. Was meinst du, wie so’n alter Troßsoldat stolz ist, wenn er zwei Gefangene macht?! Kennst du die Internationale?«

»Nein. Warum?«

»Ich kenn’ sie, aber nicht ganz. Es wird genügen. Verstehst du: Wenn wir mit erhobenen Händen losmarschieren, singen wir die Internationale. Dann müssen die Brüder strammstehen- und können nicht schießen, ist doch klar, oder?«

Schwanecke grinste breit, und Deutschmann konnte sich eines Lächelns nicht enthalten.

Doch etwas später, gegen Nachmittag, wurde die Lage ungemütlicher. Von der Front her kam immer heftiger werdendes Schießen, das sich rasch näherte. Jetzt hörte man auch wieder Panzer, und in die alten russischen Stellungen schlugen einige deutsche Granaten.

»Ich werd’ verrückt«, kommentierte Schwanecke diese veränderte Lage überrascht. »Soll das heißen, daß die Kumpels einen Gegenangriff machen?«

»Sieht so aus«, sagte Deutschmann trocken.

Als am Ende auch noch russische Infanterie - Schwanecke kroch an den Waldrand, um die Lage zu erkunden - gegen den Wald zog, wurde auch er nervös. »Nichts wie ab!« sagte er. »Wir müssen tiefer ‘rein, sonst erwischen sie uns - und das wäre nicht gut. Jetzt sind sie erst recht wütend, wo sie zurückgejagt werden. Wer hätte das gedacht -!«

Sie brachen auf.

Der Wald war still, tief verschneit, ab und zu polterte Schnee von den Zweigen und schlug dumpf zu Boden. Von weit her, wie aus einer anderen Welt, hörte man den Lärm der Schlacht. Der Atem dampfte vor ihren Gesichtern, als sie sich keuchend und vorsichtig, immer wieder verharrend und horchend, durch den Schnee und das Unterholz den Weg bahnten.

Es dämmerte.

»Halt -!« sagte Schwanecke plötzlich, der vorausging, und blieb wie angewurzelt stehen.

»Was gibt’s?«

»Ein paar Hütten, glaub’ ich«, gab Schwanecke flüsternd zurück und ging langsam in die Knie. Deutschmann tat es ihm gleich - und nun sah auch er durch die Zweige hindurch die dunklen Umrisse einiger, kaum aus dem Schnee ragender Hütten auf einer kleinen Lichtung.

»Ob sie bewohnt sind?«

»Wie soll ich das wissen. Man müßte nachsehen .«

»Na, denn los!« sagte Deutschmann, und Schwanecke sah ihn überrascht an. Aber er sagte nichts. Kriechend arbeiteten sie sich weiter vor, bis an den Rand der Lichtung. Jetzt konnten sie die drei oder vier Hütten gut übersehen.

Nichts rührte sich. Es war alles stumm, sie hörten nur ihr eigenes Atmen und die dumpfen, schnellen Herzschläge.

»Vielleicht gibt’s was zu fressen dort?« sagte Schwanecke.

»Wir haben ja noch etwas.«

»Eine kleine Reserve würde nicht schaden.«

»Du glaubst doch selbst nicht ... wie soll es hier was zu fres-sen geben -? Aber vielleicht -«

»Was?«

»Vielleicht - wenn die Hütten unbewohnt sind - könnten wir hier übernachten.«

»Na, ich weiß nicht ...«:, sagte Schwanecke zweifelnd.

»Warum nicht? Hier draußen können wir uns ganz schöne Erfrierungen holen.«

»Das stimmt.«

»Also los!«

Von Deutschmann war die Lethargie, die sich seiner gestern bemächtigt hatte, gewichen. Mit Gewalt versuchte er immer wieder, die Gedanken an Julia und ihren Tod zu verscheuchen. Und jetzt war es ihm gelungen. Er mußte am Leben bleiben. Er hatte eine Aufgabe. Er glaubte, den Weg vor sich zu sehen -oder zumindest ahnte er ihn: Julia ist gestorben, doch ihr Tod verpflichtete ihn mehr, als es alles andere zu tun vermochte. Man konnte sie nicht mehr zum Leben erwecken - aber man konnte diesem Tod wenigstens einen Sinn geben. Er mußte am Leben bleiben, koste es, was es wolle, und dann, später einmal, seine Arbeit dort fortsetzen, wo er aufgehört hatte.