Jetzt belebte sich das Feuer wieder, wurde wütender, in der Ferne hörte man dumpfe Artillerieabschüsse. Und wahrscheinlich hatten die Russen doch etwas gesehen, denn das Feuer lag immer besser, es konzentrierte sich immer genauer dorthin, wo sie lagen, und es konnte nur noch Augenblicke dauern, bis es sie erwischte. Schwanecke drehte den Kopf zurück, schrie: »Auf - Panzer -!« sprang wie von einem Katapult abgeschossen auf und durchraste mit wenigen, großen Sätzen die Entfernung zum Panzer und warf sich dort nieder, wühlte sich in den Schnee unter dem Stahlkoloß, heftig atmend, doch sich bereits einigermaßen sicher wähnend. Es mußte schon ein Artillerievolltreffer kommen, wenn es ihn hier erwischen sollte!
Dann sah er zurück.
Jetzt sprang auch Deutschmann hoch. Tief gebückt, ein laufender, keuchender Schatten, Leuchtspurmunition zischte an ihm vorbei, zwei, drei Minenexplosionen, jetzt war er bereits ganz nahe, noch einige Schritte - und nun sah Schwanecke, er sah es richtig, er bildete sich das nicht nur ein, er sah, wie die rötliche Linie eines Phosphorgeschosses durch Deutschmanns Kopf schlug, in der Augenhöhe, er sah, wie es Deutschmann mitten im Satz zurück und zugleich steil in die Höhe riß, wie immer bei Kopfschüssen, gleichzeitig schlug ganz in der Nähe eine Mine ein, umgab Deutschmann mit einer Schneewolke und schleuderte Schwanecke Schnee und Dreck ins Gesicht.
Er wischte sich die Augen aus, fuhr sich mit der Hand verzweifelt über das Gesicht und rief: »Ernst - he - Professor -Professor!«
Und wieder: »Professor - Professor -!«
Nichts.
Schwanecke kroch zurück, schnell, auf Knien und Ellbogen, sich nicht mehr um die Hölle um sich kümmernd.
Deutschmann stöhnte. Lallend, kaum verständlich kamen heisere, glucksende Laute aus seinem weit aufgerissenen Mund: »Kopf - Karl - Karl -!« Und nun schrie er laut, gedehnt, schrilclass="underline" »Karl - Karl -!«
»Ja - ich bin hier - ich bin hier - ich bin hier!« keuchte Schwanecke und sah entsetzt auf den Blutbrei oberhalb Deutschmanns Mund. Es gab keine Nase mehr, keine Augen, keine Augenbrauen, nur Fleischfetzen, Knochensplitter, und mitten daraus kamen pfeifende, gurgelnde Laute und lallende, unverständliche Worte.
Schwanecke sah sich verzweifelt um, richtete sich dann kurzentschlossen auf, packte Deutschmann unter den Armen und zog ihn gegen den Panzer auf die den russischen Gräben abgewandte Seite. Deutschmann schrie, und sein Schreien schnitt wie mit tausend Messern in Schwaneckes Gehirn, er sah auf Deutschmanns schleifende Beine und sagte sich: »Auch das- auch das -! Mein Gott!«
Deutschmanns linkes Bein schleifte ganz verdreht und viel länger als das rechte hinter dem Körper. Unter dem Knie war das Hosenbein zerfetzt und blutig.
Dann lagen sie halb unter dem Panzer.
»Ich bringe dich zurück, Doktor, Professor, ich bringe dich zurück«, keuchte Schwanecke, »keine Bange, ich bring’ dich zurück!«
»Bein - was ist - mein Bein ...!«:
»Dich hat’s ein bißchen erwischt, Professor, wart mal!«
»Bein - ich - ich - ich -«
Schwanecke schnallte mit fliegenden Händen Deutschmanns Koppel los und band das zerschmetterte Bein oberhalb des Knies ab. Dann riß er das zerfetzte Tuch der Hose auseinander und schloß für einen Augenblick die Augen, als er die schreckliche Wunde sah: Deutschmanns Bein hing nur noch an zwei, drei Hautfetzen. Seine Kopfwunde konnte warten. Aber dies hier - er konnte verbluten ... Er sagte: »Ich bring’ dich zurück, Professor, is’ nicht so schlimm, Professor, is’ halb so schlimm, ich bring’ dich zurück, keine Bange!«
»- Ja - nicht du mußt - du mußt - ‘rüber .«
»Halt jetzt die Klappe!«
Verbandspäckchen! Wo war das Verbandspäckchen?
»Tut’s weh, Professor?«
»Ja - die Augen ...«
Das Feuer der russischen Schützen konzentrierte sich auf den Panzer. Aber Schwanecke kümmerte sich nicht darum. »Die Augen, bloß der Luftdruck«, log er, »is’ bloß der Luftdruck, du kennst das, Professor, wir kennen das, is’ doch klar!« und während er sprach, holte er aus der Tasche ein verstecktes Klappmesser, das er bei dem Zimmermannstrupp organisiert hatte, er wandte kein Auge ab von Deutschmanns Bein, als er das Messer aufklappte, er sagte: »Nur verbinden, Professor - keine Bange, is’ gleich fertig, dann bring’ ich dich zurück zu den unseren ...«
»Die Augen - die Augen -«, wimmerte Deutschmann.
»Ja - gleich«, sagte Schwanecke, setzte das Messer an und schnitt mit zwei, drei schnellen, starken Schnitten die Fleisch-und Hautfetzen durch, an denen Deutschmanns Bein hing.
Deutschmann schrie. Schwanecke glaubte, noch keinen Menschen so schreien gehört zu haben, aber es war schon vorbei, und er sagte beruhigend: »War bloß ‘n Hautfetzen, Kumpel, bloß ‘n Hautfetzen, mußte weg, verstehst du, verstehst du ... ich ... gleich ist’s vorbei!«
»Ja - ja - die Augen ...«:, stöhnte Deutschmann.
Schwanecke verband den Beinstumpf so gut er konnte, dann nahm er sein eigenes Verbandspäckchen und machte sich an Deutschmanns Kopfwunde, die fast aufgehört hatte zu bluten. Es war aus, ein Blinder konnte sehen, daß es mit Deutschmanns Augen vorbei war, weg, herausgerissen, die Nasenwurzel zerschmettert, der Stirnknochen, es war ein Wunder, daß kein Gehirn herauskam, aber vielleicht ging die Wunde nicht so tief, solche Sachen sahen im ersten Augenblick immer schlimmer aus, als sie waren, klar, vielleicht ...
Als er fertig war, richtete er sich halb auf und brüllte gegen die deutschen Linien: »Nicht schießen - nicht schießen! He -ihr Idioten - nicht schießen!« Er brüllte es immer wieder, bis das Feuer von den deutschen Gräben wirklich aufhörte, und dann schrie er: »Feuerschutz -! Hört ihr - Feuerschutz -!«
Sie gaben ihn.
Er lud den jetzt ohnmächtigen Deutschmann auf die Schulter, stand schwankend auf, beugte sich noch einmal herunter und hob auch Deutschmanns abgeschnittenes Bein auf und klemmte es unter den Arm.
Dann lief er gegen die deutschen Gräben.
Er war mitten auf dem Weg, der taghell erleuchtet war von immerfort aufsteigenden Leuchtkugeln, als ihm plötzlich schien, daß irgend etwas fehlte, und es dauerte eine Zeitlang, bis er wußte, was es war:
Das Feuer war verstummt. Die Front war totenstill, nur die hohlen, kurzen Abschüsse der Leuchtpistolen unterbrachen ab und zu das Schweigen.
Gut so -, dachte er grimmig. In Ordnung. Gut so.
Langsam, Schritt für Schritt, ging er weiter durch die taghell erleuchtete Nacht, hochaufgerichtet, und warf einen huschenden, unförmig-veränderlichen Schatten auf die weiße Schneefläche. Er kümmerte sich nicht um Minen. Vielleicht - vielleicht wünschte er sogar, auf eine zu treten. Es war aus. Er war auf dem Wege zurück. Er ging in seinen Tod, er wußte es. Aber er ging weiter. Er tat es, obwohl er glaubte, daß der Mann, den er trug, nicht am Leben bleiben würde. Vielleicht auch war er bereits tot - genauso tot wie dieses Bein, das er unter dem Arm geklemmt trug. Aber er hatte es ihm versprochen, ihn zurückzubringen, er hatte gesagt: Ich bringe dich zurück, Professor! Und nun tat er es - gleichgültig, ob er noch lebte oder schon tot war, gleichgültig, daß er damit so gut wie sicher in den Tod schritt.
Ein junger Leutnant nahm ihn in Empfang, als er über den Grabenaufwurf in die Stellung kletterte. Auch zwei Sanitäter mit einer Bahre warteten bereits. Langsam, vorsichtig, behutsam legte Schwanecke Deutschmanns Körper auf die Bahre und richtete sich wieder auf.
Ein Sanitäter beugte sich über Deutschmann.
»Lebt er noch?« fragte der Leutnant.
Schwanecke zuckte mit den Schultern.
»Was wollen Sie denn damit?« Der Leutnant zeigte schaudernd auf Deutschmanns Bein.
»Ach so -.« Schwanecke legte das Bein auf die Bahre. »Ich hab’ ihn zurückgebracht«, sagte er dann. »Verstehen Sie - ganz -!«