»So?«
»Bestimmt. Ich könnte in einem Zirkus auftreten. Sie wissen Entfesselungskünstler und so ... ich hab’ mal einen gesehen ... ich hätte es allemal fertiggebracht, Ehrenwort. Hokuspokus -weg ist er ... der Schwanecke, der verfluchte -!«
Das letzte sagte er mit tiefer Stimme, es genußvoll in die Länge ziehend.
»Es dürfte Ihnen schlecht bekommen«, sagte Wernher, der zur Tür ging und den Posten rief. »Es wird scharf geschossen, mein Lieber! Machen Sie keine Dummheiten!«
»Mich trifft keiner«, grinste Schwanecke. »Hokuspokus, weg ist er, aufgelöst in der Luft, wie der Geist meines Onkels, den die Tante mal gerufen hatte. Spiritieren oder wie das heißt, spinitisieren ... er kam, sagte >Guten Tag< und weg war er wieder, obwohl ich versucht habe, ihn zu erwischen, einfach weg, kein Wunder, wo er aus der Familie Schwanecke war, ich mach’s nämlich ebenso .«
Wernher ließ ihn reden. Er glaubte, den anderen zu durchschauen: Es war die Angst, die ihn so reden ließ, und die Worte versuchten sie zu verdecken. Er wußte nicht, wie überrascht und fassungslos er am nächsten Morgen in der Hütte stehen würde, in die er Schwanecke einsperren ließ - und sich an diese Worte erinnern, Wort für Wort, von denen er jetzt glaubte, ihnen nicht das geringste Gewicht beimessen zu brauchen ...
»Ab mit Ihnen!« sagte er, als zwei Posten kamen, um
Schwanecke abzuführen. »Machen Sie sich zuerst sauber.«
»Mache ich«, nickte Schwanecke und blinzelte dann den Oberleutnant über die Schulter an, als würde zwischen ihnen eine Verschwörung bestehen, ein Geheimnis, um das nur sie beide wußten.
Kapitel 15
In der folgenden Nacht nach Schwaneckes Rückkehr zum Bataillon, beziehungsweise zu Wernhers erster Kompanie, waren zwei Dinge geschehen, die weder Oberleutnant Wernher noch sein Spieß, noch der Wachhabende erklären konnte, zwei Dinge, von denen man noch lange sprach und die die Legenden um Schwanecke angereichert und ausgeschmückt wieder aufleben ließen:
Schütze Karl Schwanecke war aus dem Schuppen, in den ihn Wernher einsperren ließ, verschwunden. Aber das war noch nicht alles: Mit ihm war aus der Schreibstube auch die Pistole des Spießes mit drei vollen Magazinen verschwunden und aus der Feldküche ein langes Schlachtmesser.
Wie konnte das geschehen?
Wernher hatte einen Doppelposten angeordnet, einen vor, den anderen hinter dem Schuppen. Er wollte sichergehen. Als um zwei Uhr morgens die Ablösung kam, fand sie beide Posten bewußtlos, schwer angeschlagen im Schuppen liegen - und den Karabiner des einen, mit der gesamten Munition der beiden, nahm Schwanecke gleichfalls mit.
»Vielleicht will er ‘ne Offensive starten ...« sagten die Soldaten augenzwinkernd, als sie die rätselhaften Geschehnisse dieser Nacht lang und breit kommentierten. Es gab keinen einzigen unter ihnen, der es Schwanecke nicht gegönnt hätte, für alle Zeiten auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden.
Als man am nächsten Vormittag Schwaneckes Ausbruch rekonstruierte, fand man folgendes heraus:
Er mußte in stundenlanger, unendlich vorsichtiger Arbeit, die von den Posten unbemerkt geblieben war, zwei Bretter an der Seitenwand des Schuppens gelockert und herausgerissen haben. Dann zwängte er sich durch den ziemlich schmalen Spalt und erledigte zuerst den einen und dann den anderen Posten (beide hatten noch einige Tage lang ziemlich starke Kopfschmerzen, aber sie nahmen es Schwanecke keineswegs übel, daß er sie so zugerichtet hatte). Dann schleppte er sie in den Schuppen und spazierte schließlich seelenruhig zu der Schreibstube, wo er das Fenster eingedrückt und die Pistole weggenommen hatte. Anschließend war er zu der Feldküche gegangen, wo er Lebensmittel holen wollte. Er fand aber keine, denn alle waren unter festem Verschluß, und der Koch schlief daneben. Auch das wäre sicherlich kein Hindernis für ihn gewesen - aber wahrscheinlich nahte die Ablösung, die seinen Ausbruch entdecken würde, und so mußte er schließlich verschwinden, ehe er noch Eßbares mitnehmen konnte.
»Haben Sie denn, in drei Teufels Namen, nichts gehört?« fragte Wernher seinen unglücklich schauenden Spieß aufgebracht.
»Nein, Herr Oberleutnant.«
»Sie schlafen doch neben der Schreibstube ... er kann doch nicht ... wo mag er wohl hin sein?«
Er überlegte. Zur Front konnte Schwanecke nicht. Dort würde er fast sicher entdeckt werden. Nach Orscha? Das wäre gleichbedeutend mit Selbstmord. Dafür ist er sicher nicht ausgebrochen. Es blieb ihm nur noch ein Weg: der zu den Partisanen.
Dies war es auch, was er später seinem Kommandeur, Hauptmann Barth, telefonisch mitteilte.
»So ein Mistvieh!« sagte Barth - und Wernher war es, als hätte er in seiner Stimme einen bewundernden Unterton herausgehört und vielleicht auch ein Lächeln. Wenn man es recht besah - es war auch zum Lachen. Und zum Weinen: Was könnte man mit diesem Kerl alles anfangen!
»Und was wollen Sie machen, Wernher?«
»Was soll ich denn machen?«
»Nichts. Einen Bericht schreiben.«
»Nach ihm fahnden?«
»Hätte das denn einen Sinn? Glaube nicht.«
»Ich auch nicht, Herr Hauptmann. Er steckt todsicher im Wald - und wie sollen wir ihn dort finden? Wir sind ja sogar außerstande, ein ganzes Bataillon Partisanen aufzuspüren, das sich im Wald versteckt. Ich gehe jede Wette ein, daß er sich dort verbirgt.«
»Die Wette würden Sie wahrscheinlich gewinnen, Wernher. Ein toller Knabe, was?«
Und so war es auch: Schwanecke war im Wald von Gorki -in dem gleichen Wald, in dem sich auch sein Todfeind Tartuchin versteckte.
Im Wald von Gorki saß Mischa Serkonowitsch Starobin vor seiner Erdhöhle, rauchte Machorka und lauschte nach unten, wo Anna Petrowna Nikitewna mit einem Topf klapperte.
Oberleutnant Denkow war vor einer Stunde bei ihnen gewesen. »In drei Tagen geht’s los, Genossen«, hatte er gesagt. »Wir werden jetzt die Deutschen endgültig wie Hunde vor uns herjagen. Wenn ihr wüßtet, was sich da hinten alles ansammelt ... zwei-, dreihundert Stalinorgeln, ein paar hundert Panzer, so viel Geschütze, wie ich sie noch nie beisammen gesehen habe -!«
Das war eine Wonne für Starobins Ohren gewesen. Das Abenteuer mit Tanja hatte er bereits vergessen - niemand sprach mehr von ihr, als wäre ihr Name tabu geworden - doch jeder wußte: So starb eine Verräterin. Wenn das Ganze vorbei war, so malte sich Starobin aus, wenn die Deutschen endgültig besiegt waren, dann wollte er endlich seine Anna Petrowna heiraten. Zugegeben, sie war nicht sehr schön, aber sie war verläßlich und auch sonst ...
In seine Gedanken und Träume versunken saß er vor dem Erdbunker und hörte und sah nicht, wie hinter ihm durch den Wald ein Mann kroch, mit heißen, glanzlosen Augen zu der Höhle und dem dick vermummten Mann starrend, über dessen Kopf blaue Rauchwölkchen aus der Pfeife kräuselten.
Schwanecke.
Hier war er richtig. Er hatte bereits eine Menge dieser Erdhöhlen gesehen, in denen Partisanen hausten, aber keine war so günstig gelegen wie diese hier. Alle anderen waren auf einem Haufen, zu zweit oder zu dritt, diese hier aber war weit und breit die einzige.
Er war in den Wald gekommen, um sich zu verbergen. Einmal würde die sowjetische Front die deutschen Linien eindrük-ken. Dann würden auch die Partisanen weiterrücken, und er konnte sich überrollen lassen und in die Gefangenschaft gehen. Bis dahin mußte er es aushalten. Er war gut bewaffnet, hatte Munition, vielleicht würde er sich so eine Erdhöhle bauen wie die Partisanen. Ernähren mußte er sich von Diebstählen und Raub, es blieb ihm nichts anderes übrig.
Der Hunger peinigte ihn. Es war schon der dritte Tag, ohne daß er etwas zwischen die Zähne bekam, und das konnte bei dieser Kälte nicht lange gutgehen. Dieser Erdbunker lag auf seinem Wege tiefer in dem Wald. Warum sollte er nicht versuchen .?