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Micha Starobin drückte seinen dicken Daumen in die Pfeife, dann sog er wieder am Mundstück, nickte zufrieden - und in diesem Augenblick kam das Ende. Er fiel nach vorne in den Schnee, wollte schreien und um sich schlagen und hatte das Empfinden, irgend etwas würde seinen Körper in zwei Teile schneiden. »Oh - oh«, gurgelte er erstickt und starb.

Schwanecke hockte über ihm und blieb auf ihm sitzen, bis sich der Körper unter ihm streckte. Dann zog er das breite, lange Messer aus Starobins Rücken und untersuchte mit fliegenden Händen dessen Taschen. Ein Lederbeutel mit Machorka. Gut. Ein Blechdöschen mit grünem Tee ... und nichts zu essen! Er verharrte und horchte gegen den Eingang in die Erdhöhle, in der eine heisere Frauenstimme plötzlich zu trällern begann. Also war es noch nicht zu Ende, er mußte auch noch eine Frau töten im Bunker gab es sicher etwas Eßbares.

In diesem Augenblick betrat Pjotr Sabajew Tartuchin die kleine Lichtung.

Das Knacken eines Zweiges wirbelte Schwanecke herum.

Tartuchin!

Stumm standen sie sich gegenüber und sahen sich an.

»Ach - du bist ...« flüsterte Tartuchin.

Schwanecke grinste.

»Ich hab’ gewußt ... ich werde dich finden, und ich werde dich töten -«, sagte Tartuchin, immer noch flüsternd. »Ich hab’ gewußt ...«

»Quatsch nicht so kariert - na, mach’s schon! Versuch’s doch!« Schwanecke hatte heute keine Lust, mit dem Messer zu kämpfen. Tartuchin war zu gefährlich. Aber er mußte es wohl tun, denn das Gewehr hatte er hinter dem Erdaufwurf des Bunkers liegenlassen, um beim Überfall auf Starobin nicht behindert zu werden. Und die Pistole steckte zu tief unter der Tarnjacke. Bevor er sie hervorholte, war der andere längst über ihm. So mußte es wohl mit dem Messer sein, das er in der Hand hielt -und dabei mußte er auch noch auf die Frau aufpassen, die in der Erdhöhle steckte. Man wußte ja, wie diese Partisaninnen waren!

»Ich habe geschworen, ich habe geschworen ...« murmelte Tartuchin, und in seiner Handfläche lag plötzlich, wie hingezaubert, ein langer Dolch.

»Na, denn -!« sagte Schwanecke.

»Ich werde dich töten ...«

»Daß ihr immer soviel quasseln müßt, du gelber Affe!«

Ihre Augen waren stumpf und leblos. Tartuchin schlich gebeugt nach vorne, bis er nur noch wenige Schritte vor Schwanecke stand. Die heisere Frauenstimme im Bunker sang. Sie kümmerten sich nicht darum. Sie umkreisten einander wie zwei riesige Katzen, weich, mit geschmeidigen, gleitenden Bewegungen, und Schwanecke mußte plötzlich an einen Wildwestfilm denken, den er irgendwann gesehen hatte und wo sich ein Indianer und ein Weißer genauso umkreisten, mit Messern in den Fäusten ... Damals erschien ihm das furchtbar albern, und in Erinnerung daran mußte er grinsen.

Natürlich siegte damals der Weiße.

Wer von ihnen beiden war der Weiße?

Das Ganze war’n Riesenblödsinn, das Ganze hatte gar keinen Sinn, es war verrückt und blöde, der Film und das da und alles andere, Tartuchin und der Wald und der Bunker und der Tote auf dem Boden und die singende Frauenstimme und er selbst und daß er hier war, das Ganze war idiotisch und unwahr, was hatte er hier zu suchen?

Es war zum Lachen!

Gleichzeitig, wie auf Verabredung, schnellten sie vom Boden ab, trafen sich in der Luft und stießen mit ihren Messern zu. Eng umklammert fielen sie zu Boden, rollten übereinander, knurrend, stöhnend - sterbend.

Tartuchin starb zuerst.

Schwanecke richtete sich auf, stemmte sich mit den zitternden Armen vom Boden auf und sah auf den zuckenden Körper des anderen, seinen nach Luft schnappenden Mund und auf das gräßliche Verdrehen der Augen, so lange, bis Tartuchin tot war.

So’n Riesenblödsinn!

Warum hatte er ihn eigentlich umgebracht?

Er hatte keine großen Schmerzen, nur ‘n bißchen, er war bloß schwach, als seine Arme endlich nachgaben. Einige Se-kunden lag er auf dem Gesicht und drehte sich dann ächzend, mit zusammengebissenen Zähnen um. Er wollte nicht auf dem Gesicht sterben. Auf dem Rücken, so war’s richtig. Die Hände schön auf dem Bauch gekreuzt, so wie der Onkel nach einer Prügelei, wo er einen Stein auf den Kopf bekommen hatte. So wie es sein mußte, wenn ein Mann starb, obwohl auch das verdammt lächerlich war.

Jetzt lag er richtig.

Er hörte eine Tür schlagen und Schritte näherkommen, es war die Wohnungstür zu Hause in Hamburg, und seine Mutter kam endlich heim. Sicher war sie besoffen. Wenn sie einen Freier mitbrachte, mußte er vom Bett aufstehen und Platz machen, in die Küche gehen und warten, bis sie fertig waren. Dabei war er so verdammt müde!

Na, klar, es war die Mutter! Nein - das war eine andere Frau, die sich über ihn beugte, er hatte sie noch nie gesehen, und warum guckte sie so entsetzt? So ‘n Blödsinn! Natürlich war es Mutter - warum schrie sie bloß so verrückt? Warum schrie sie bloß? Jetzt verschwand ihr Gesicht, aber das Schreien blieb, und dann tauchte das Gesicht wieder auf und dann eine Hand mit einem blutigen Messer ... was wollte sie bloß mit dem Messer?

So ‘n Blödsinn!

Anna Petrowna schrie wie ein tödlich verletztes Tier. Sie schrie und schrie und stach mit dem Messer auf diesen fremden Mann, der ihren Micha getötet hatte und Tartuchin, und sie nun mit weit offenen, neugierigen und spöttischen Augen anstarrte, mit einem weiß-grinsenden spöttischen Gesicht, sie schrie und stach in dieses Gesicht, aber das Grinsen konnte sie nicht auslöschen, selbst dann noch nicht, als der Fremde bereits tot war und von seinem Gesicht nichts anderes mehr übriggeblieben war als eine blutige, unkenntliche Masse.

Deutschmann wurde mit einem rumänischen Lazarettzug durch Rußland und Polen nach Berlin gebracht. Er hörte nur die Namen der Stationen, die ihm die anderen Verwundeten zuriefen, er hörte die Stimmen der Rot-Kreuz-Schwestern, die an den Fenstern Kaffee und Tee verteilten, Butterbrote und Obst.

»Haste Durst?« fragte ihn hin und wieder einer der anderen, die er langsam an ihren Stimmen unterscheiden lernte. »Wülste Tee?«

Dann nickte er. Sprechen konnte er nicht. Blind, dachte er, blind ... ein Bein weg ... was soll ich noch? Er trank.

»Morgen sind wir in Berlin!«

Was sollte er in Berlin?

»Freust du dich?«

Warum sollte er sich freuen? Aber er nickte. Er sprach kaum, meistens nickte er oder stellte sich schlafend.

Was werde ich tun, wenn ich wiederhergestellt bin, grübelte er unablässig. Eine kümmerliche Rente, in einem Rollstuhl sitzen, tagaus - tagein’, ohne den Tag zu sehen und die hereinbrechende Nacht ... wenn Julia noch lebte, könnte er diktieren, denken, arbeiten, weiter, trotz allem! Nein! Könnte er ihr denn zumuten, neben einem dahinvegetierenden Krüppel zu leben?

Es war müßig, darüber nachzudenken. Sie war tot!

Tanja war tot. Schwanecke war wahrscheinlich tot. Obermeier, Bartlitz, Wiedeck, alle ... Warum mußte er noch leben?

Berlin:

Er lag in irgendeinem Reservelazarett. Wie lange schon? Die Schwestern sagten: vier Wochen. In Wahrheit mußte es viel länger sein. Vier Jahre. Vier Jahrzehnte. Die Zeit stand still, er stand mitten in ihr und konnte sie fast greifbar vor und um sich vorbeifließen sehen wie einen unendlichen Strom. Er wurde nun immer mitten in diesem Strom leben, dessen langsamer, gleichgültiger Fluß ihn wahnsinnig machte.

Heute war Donnerstag. Na, und? Was tat es, daß es Donnerstag war? Ob Donnerstag oder Freitag oder Sonntag oder Dienstag, was tat es? Es war - er hörte es - drei Uhr nachmittags. Draußen war es hell, aber nicht um ihn. Um ihn war es immer dunkel. Um drei Uhr nachmittags oder drei Uhr nachts, gleichgültig wann es war. Er hatte die Dunkelheit und seine Gedanken und Erinnerungen - oh, hätte er sie nicht!

Er hörte, wie die Tür aufging. Sie quietschte ein wenig. Wer war eigentlich ins Zimmer gekommen? Schwester Erna? Dr. Bolz - oder der alte Freund Wissek, der schon am andern Tag kam, nachdem Deutschmann hierhergebracht worden war?