»Sicher«, sagte Deutschmann, »ganz sicher!«
»Ich hätte noch ein paar Tage bleiben sollen«, sagte Wiedeck müde. »Dann würde ich’s ganz genau wissen. So aber ...«
So aber ... dachte Deutschmann. Immer wieder bleibt: So aber -. Hätte ich das getan oder hätte ich’s nicht getan, wäre alles anders gekommen, so aber ...
Jetzt weiß ich’s: Es ist ein Wunder, daß ich überhaupt noch lebe. Das Serum in seiner jetzigen Form ist wirkungslos. Ich habe einen Fehler gemacht. Ich hätte nicht so hastig vorgehen sollen. Ich hätte alles besser durchrechnen und durchdenken sollen. Dann wäre es nicht so weit gekommen. So aber ...
»Schlaf gut«, sagte er leise.
»Ja -«, sagte Wiedeck. Er konnte nichts anderes sagen. Er weinte.
Am nächsten Tag, nach dem Arbeitseinsatz, bekam das ganze Bataillon Schreiberlaubnis. Die alten Hasen behaupteten, es stünde etwas bevor, weil sie schreiben durften; wahrscheinlich würden sie nach Rußland kommen.
Deutschmann schrieb an seine Frau Julia:
»Mir geht es gut, Julchen. Das Essen ist reichlich, und auch sonst fehlt es mir an nichts - nur Du fehlst mir, Rehauge, Du weißt nicht, wie! Ich möchte Dich so gerne sehen - aber das ist einstweilen nur ein frommer Wunsch. Habe keine Angst um mich, gib auf Dich acht, besonders jetzt, bei den vielen feindlichen Luftangriffen. Bitte, paß auf Dich auf, Rehauge, ich will Dich gesund und schön wiederfinden, wenn ich zurückkomme.
Kuß, Dein Ernsti.«
Erich Wiedeck schrieb:
»Liebe Erna,
ich weiß immer noch nicht, wie es mit der Geburt war, und ob Du gesund bist und ob es ein Junge oder ein Mädchen ist, schreib mir bitte. Wenn es ein Junge ist, gib ihm den Namen Wilhelm, nach meinem Vater, Du weißt schon, wenn es ein Mädchen ist, dann soll es Erna heißen, wie Du. Mir geht es ganz gut, nur habe ich Sorgen um Dich und die Kinder, aber wir wollen Gott vertrauen, daß sich alles zum Guten wendet und ich bald nach Hause komme. So grüße ich Dich und die Kinder.
Dein Mann Erich.«
Beide Briefe waren um einige Worte länger, als die Vorschrift erlaubte. Im Hinblick auf das bevorstehende Kommando ließ man sie jedoch durchgehen.
Daß irgend etwas im Gange war, hätte nun auch ein Blinder sehen können. Obermeiers Kompanie brach den Arbeitseinsatz ab und blieb im Lager. Außerdem kam für Hauptmann Barth ein neuer Adjutant.
Barth hatte zunächst verständnislos auf die Zuweisung gesehen, die ihm vom Kommandeur der Strafeinheiten zugeschickt wurde. »Ein neuer Kamerad, meine Herren«, sagte er zu Obermeier und Wernher. »Ein Oberleutnant, Fritz Bevern heißt er. Aus Osnabrück. Ein verdienter Mann, scheint mir: HJ-Führer, Vater Kreisleiter, Kriegsschule mit Sehr gut absolviert, vor allem im Fach Politik ausgezeichnet. Kriegsverdienstkreuz I. Klasse, EK II. Er kommt heute noch.«
»So etwas brauchen wir hier. Das suchten wir doch schon lange, nicht?« seufzte Oberleutnant Wernher.
»Er kann doch auch ein netter Junge sein.« Hauptmann Barth legte die Zuweisung in eine Mappe. »Warten wir ab. Auf jeden Fall bekomme ich einen Adjutanten. Ganz groß, was? Entlastung des Kommandeurs und Verbindung zur Truppe. Ich fürchte nur, daß er bald überflüssig werden wird.«
»Sie sprechen in Rätseln, Herr Hauptmann«, sagte Wernher. Barth grinste: »Was soll er noch verbinden, mit wem soll er mich verbinden, wenn wir erst einmal drei oder vier Wochen in Rußland sind?«
»Und außerdem sind Sie ein Schwarzseher, Herr Hauptmann. Darf ich mich abmelden?«
»Ist das Pferd gesattelt?« fragte Barth hinterhältig.
»Seit einer Stunde schon.«
»Viel Spaß. Sie bleiben hier und unterstützen mich, Obermeier?«
Bevern kam in einem höchst feudalen Auto angefahren, einem Horch-Achtzylinder, der einmal einem Rittergutsbesitzer gehört hatte.
Als der neue Adjutant ausstieg und federnd zur Kommandeursbaracke ging, lief ein vielstimmiges »Ach« durch die Fensterreihen der Baracken. Blanke Stiefel, Maßuniform, gekniffte Mütze auf dem Ohr, hellgraue Wildlederhandschuhe, eine Pistole in einer hellbraunen, eigenen Pistolentasche. Das Modellbild eines Offiziers. Ein Mannequin aus der Uniformschau: Wie sieht der korrekt angezogene Offizier im Dienstanzug aus?
Barth steckte sich eine Zigarette an. Was soll ich mit diesem geschniegelten Affen anfangen? fragte er sich erschrocken. Himmel - der wird sich maniküren, wenn wir durch den russischen Dreck latschen!
Er irrte sich. Fritz Bevern trat sofort zur Offensive an, als die Vorstellung beendet war und man sich bei einem Glas Rotwein weiter beschnupperte und abtastete.
»Als ich ins Lager fuhr«, erzählte Bevern und nahm einen kurzen, abgehackten Schluck aus dem Rotweinglas, »flegelte sich am Lagertor ein Subjekt herum, mit einem Besen in der Hand. Ich dachte zuerst: Ob das ein Russe ist? Nein, meine Herren, es war ein deutscher Soldat! Tatsächlich! Ich lasse anhalten, sehe ihn mir schärfer an, aber der degenerierte Bursche grüßt immer noch nicht. Sah aus wie ein Untermensch! Und dann - steckt er den Finger in die Nase und popelt. Eine Unverschämtheit! Ich fragte ihn, wie er hieße. Und, was meinen Sie, was er darauf antwortete?«
»Was«, fragte Barth interessiert.
»Ha -.«
»Wie war das?«
»Er sagte: Ha? Unerhört!«
»Und wie hieß er?« fragte Obermeier.
Bevern knöpfte seine Brusttasche auf, zog einen Zettel heraus, knöpfte die Brusttasche wieder zu und las: »Karl Schwanecke, aus der 2. Kompanie. Es war gar nicht so leicht, es aus ihm herauszubringen. Der Bursche ist stocktaub. «
»Was ist er?« fragte Barth und konnte dabei kaum ein breites Grinsen verbeißen.
»Stocktaub.«
»Der Kerl hört besser als Sie und ich zusammen«, sagte Barth genußvoll. Bevern sah verdutzt und sehr wenig geistreich aus. Obermeier lächelte.
»Er hört so gut wie ...«:, brachte Bevern heraus.
Barth nickte. »Außerdem ist er Spezialist in Einbruchdiebstählen, Raubüberfällen und kleinen Mädchen. Früher war er Gefreiter und soll ein tollkühner Bursche gewesen sein.«
»Ich werde ihn mir morgen vornehmen.« Beverns Gesicht war gerötet. »Eine unerhörte Frechheit!«
»Hoffentlich werden Sie mit ihm fertig werden«, sagte Barth und stieß eine blaue Rauchwolke gegen die Decke.
»Warum sollte ich nicht?«
»Haben Sie schon in einem - in einer solchen Einheit gedient?«
»Ich hatte bisher andere Aufgaben zu erledigen, Herr Hauptmann«, sagte Bevern mit durchgedrücktem Kreuz.
»Dann werden Sie sich umstellen müssen, mein Lieber. In Ihrem Interesse. Das ist nicht eine x-beliebige Einheit.
Es ist ein Strafbataillon.« Dieses Wort buchstabierte er nach seiner Art fast genußvoll ausdehnend. »Hier haben Sie Menschen wie Schwanecke, die keine Autorität anerkennen, außer der ihrer eigenen Triebe und Wünsche. Merken Sie sich: keine Autorität, am wenigsten die der Schulterstücke. Dann haben Sie hier Menschen, die sich einer anderen Autorität beugen, der ihrer sogenannten Ideale, die Ihren, ich wollte sagen - eh -unseren Idealen entgegengesetzt sind wie etwa Schwaneckes Verbrecherinstinkten. Ihre Autorität, Bevern, kann auch diesen Menschen genausowenig Angst einjagen wie Schwanecke und seinesgleichen. Und weiter gibt es da noch eine dritte Gruppe: Männer, die selbst nicht wissen, wie sie herkamen - das sind wahrscheinlich die zahlreichsten. Es gibt alle möglichen Schattierungen darunter: Ja - sogar Männer ohne Rückgrat, die Ihnen jeden Wunsch von den Augen ablesen werden, bis zu solchen, die partout mit dem Kopf durch die Wand wollen.«