«Bleiben Sie zurück!»
Bolitho nahm Robins die Laterne aus der Hand und rannte das letzte Stück des Weges, dann kniete er bei dem Leichnam nieder, packte den blauen Rock und drehte den leblosen Körper auf den Rücken. Im schwachen Lampenlicht schienen ihn die toten Augen ärgerlich anzustarren.
Er lockerte seinen Griff, beschämt über seine Erleichterung. Es war nicht Dancer, sondern ein Zöllner, niedergemäht bei dem Versuch, dem Gemetzel zu entkommen. Er hörte Robins fragen:»Alles in Ordnung, Sir?«Bolitho unterdrückte die in ihm aufsteigende Übelkeit und sagte:»Helfen Sie mir, den armen Kerl hinunterzuschaffen!«Stunden später versammelten sie sich erschöpft und niedergeschlagen im ersten grauen Morgenlicht unten am Strand. Weitere sieben Überlebende waren gefunden worden oder beim Klang der Stimmen aus ihren Verstecken hervorgekommen. Doch Martyn Dancer war nicht darunter. Als Bolitho wieder an Bord des Kutters stieg, sagte Gloag mit rauher Stimme:»Solange er am Leben ist, besteht auch noch Hoffnung, Mr. Bolitho.»
Dieser sah der ablegenden Jolle zu, in der Peploe, der Segelmacher, und sein Maat mit ernsten Gesichtern an Land fuhren, die Toten für ihre Bestattung einzunähen. Sie hatten teuer bezahlen müssen für diese Nacht, dachte Bolitho unglücklich. Ihm kam der blonde Tote in den Sinn, seine eigene Verzweiflung, die sich in Hoffnung gewandelt hatte, als er feststellte, daß es nicht sein Freund war, der da vor ihm lag. Aber jetzt, als er die blasse Küstenlinie mit den kleinen Gestalten darauf betrachtete, hatte er das Gefühl, daß diese Hoffnung nicht sehr groß war.
VIII Stimme im Dunkel
Harriet Bolitho trat ein, ihr langes Samtgewand streifte geräuschlos die Tür. Einen Augenblick blieb sie stehen und betrachtete ihren Sohn, dessen Gestalt sich als Silhouette gegen das Kaminfeuer abhob. Die Hände hielt er den Flammen entgegengestreckt.
Dicht daneben saß Nancy auf dem Teppich, die Knie bis zum Kinn hochgezogen. Sie beobachtete ihren Bruder so intensiv, als wolle sie ihn zum Sprechen zwingen.
Durch die andere Doppeltür hörte sie undeutliche Stimmen. Schon über eine Stunde beratschlagten sie in der angrenzenden Bibliothek: Sir Henry Vyvyan, Colonel de Crespigny von den Dragonern und natürlich Hugh Bolitho.
Wie so oft hatte auch diesmal die Nachricht von dem Überfall und von der Erbeutung des Schmuggelschiffes Falmouth auf dem Landweg viel schneller erreicht als die Hauptakteure selbst. Lange bevor die Avenger und ihre Prise auf der Reede ankerten, wußte man schon alles, was sich auf See abgespielt hatte. Harriet Bolithos insgeheime Befürchtung, daß sich etwas dieser Art ereignen würde, hatte sich bewahrheitet. Hugh war immer eigensinnig gewesen, nie wollte er auf den Rat anderer hören. Sein jetziges Kommando, so klein es auch sein mochte, war das ungünstigste, was man sich für ihn vorstellen konnte. Er brauchte eine feste Hand wie die des Kommandanten der Gorgon, Richards Schiff.
Sie richtete sich auf und durchschritt mühsam lächelnd den Raum. Die beiden hätten ihren Vater jetzt nötiger gebraucht, denn Richard blickte ihr mit angespanntem Gesicht entgegen.»Wie lange werden sie noch bleiben?»
Sie hob die Schultern.»Der Oberst versucht zu erklären, warum seine Leute dem Transport nicht zu Hilfe kommen konnten. Sie waren im letzten Augenblick wegen eines Goldtransportes nach
Bodmin zurückbeordert worden. De Crespigny hat eine Untersuchung angeordnet und auch nach unserem Friedensrichter geschickt.»
Bolitho betrachtete seine Hände. Er stand ganz dicht am Feuer, fror aber noch immer. Das von seinem Bruder erwähnte Wespennest war mitten unter ihnen aufgescheucht worden. Wie die bestürzten und verwirrten Überlebenden des Überfalls, so hatte auch er zuerst einen tiefen Groll gegen die Dragoner verspürt, weil sie nicht zur Hilfe gekommen waren. Aber als er Zeit zum Nachdenken fand, begriff er das Dilemma des Obersten. Ein etwas nebelhafter Plan, Schmuggler zu fangen, stand gegen seine strikte Order, einen wertvollen Goldtransport zu begleiten; da hatte er nicht lange überlegen dürfen. Außerdem hatte er erwartet, daß Hugh das Unternehmen abblasen würde, sobald er diese Änderung erfuhr.
Unwillig stieß Bolitho hervor:»Aber was unternehmen sie zur Befreiung Martyns?»
Seine Mutter stand hinter ihm und fuhr ihm streichelnd übers Haar.
«Alles, was in ihrer Macht liegt, Richard. Der arme Junge — auch ich denke ständig an ihn.»
Die Tür der Bibliothek öffnete sich, und die drei Männer traten ins Zimmer.
Was für ein seltsames, zusammengewürfeltes Trio, dachte Bolitho. Sein Bruder — schmallippig, verschlossen, schäbig in seiner Borduniform —, Vyvyan wuchtig, grimmig, mit der gewaltigen Narbe, die den Eindruck von Willenskraft noch verstärkte, und der Dragoneroberst: adrett, elegant wie ein Angehöriger der Leibwache des Königs. Es war kaum zu glauben, daß er ohne Pause so viele Meilen geritten war. Harriet Bolitho hob den Kopf.»Nun, Sir Henry, was halten Sie von der Angelegenheit?»
Vyvyan rieb sich das Kinn.»Ich denke, Madam, daß diese Teufel den jungen Dancer als Geisel mitgenommen haben; weshalb, kann ich allerdings nicht sagen. Es sieht schlecht aus, darüber müssen wir uns klar sein.»
De Crespigny meinte:»Wenn ich mehr Leute hätte, wenigstens zwei weitere berittene Abteilungen, könnte ich vielleicht etwas unternehmen, aber so…«Er beendete den Satz nicht. Bolitho beobachtete sie müde und enttäuscht. Jeder von ihnen dachte nur an sich selbst, versuchte, sich aus der Sache herauszuhalten, die Schuld einem anderen zuzuschieben, jetzt, da die Behörden erfuhren, was sich ereignet hatte. Er blickte seinen Bruder an. Es bestand wohl kein Zweifel daran, wer diesmal seinen Kopf hinhalten mußte. Nancy flüsterte:»Ich werde für ihn beten, Dick. «Er blickte sie an und lächelte. Sie hielt Martyns Hut ans Feuer, um ihn zu trocknen, behandelte ihn wie einen Talisman. Vyvyan fuhr fort:»Wir dürfen diese Niederlage nicht hinnehmen. Müssen uns etwas einfallen lassen.»
Man hörte Stimmen in der Halle, und einen Augenblick später steckte Mrs. Tremayne den Kopf ins Zimmer. Hinter ihr sah Bolitho des Jagdaufsehers gewaltige Gestalt aufragen.»Was gibt es, Pendrith?«fragte Mrs. Bolitho. Pendrith trat ein, einen Geruch nach Erde und Feuchtigkeit verbreitend. Er nickte den Anwesenden zu und sagte dann mit seiner rauhen Stimme zu Mrs. Bolitho:
«Einer von des Colonels Leuten wartet mit einer Botschaft draußen, Madam. «Während der Oberst sich entschuldigte und eilig hinausging, fügte Pendrith rasch hinzu:»Und ich bringe das hier, Sir. «Er hielt Vyvyan ein Papier entgegen. Dessen eines Auge überflog die ungelenke Handschrift und rief aus: «An alle, die es angeht… Was, zum Teufel, soll das?«Das Auge bewegte sich rascher, und dann sagte er:»Es ist eine Forderung, wie ich mir schon dachte. Sie halten den jungen Dancer als Geisel fest.»
Bolitho fragte rasch:»Was fordern sie?«Sein Herz hämmerte fast schmerzhaft, und er konnte kaum atmen. Vyvyan überreichte Mrs. Bolitho den Brief und sagte bedrückt:»Dieser eine Strandräuber, den meine Leute gefangen haben — gegen ihn wollen sie Dancer austauschen. Sonst. «Er blickte weg.
Hugh Bolitho starrte ihn an.»Selbst wenn wir austauschen dürften. «Er kam nicht weiter.
Vyvyan fuhr herum, sein Schatten füllte fast den ganzen Raum. »Dürften? Was sagen Sie da, Mann? Hier steht ein Menschenleben auf dem Spiel! Wenn wir diesen Schurken hängen, bringen sie den jungen Dancer um, das steht fest. Vielleicht tun sie es ohnehin. Aber ich glaube, sie werden Wort halten. Vor einem Offizier des Königs haben sie doch etwas mehr Scheu als vor einem Zöllner.»
Hugh Bolitho begegnete Sir Henrys Blick mit Unmut.»Es geschah in Ausübung seines Dienstes.»
Vyvyan trat ein paar Schritte vom Feuer zurück und stieß ungeduldig und resigniert hervor:»Fassen Sie es so auf, wenn Sie wollen. Aber wir kennen des Strandräubers Identität jetzt und werden ihn wieder zu fassen kriegen. Dem Henker entgeht er bestimmt nicht. Doch Dancers Leben ist wertvoll für seine Familie, für sein Land. «Sein Ton wurde härter.»Außerdem wird es besser aussehen.»