»Eine kühne Behauptung«, meinte Moridin.
»Ich werde sie wahr machen«, erwiderte Mesaana leichthin. »Meine Anhängerinnen infizieren die Burg wie eine unsichtbare Seuche, die in einem völlig gesund aussehenden Mann auf dem Markt schwärt. Immer mehr schließen sich unserer Sache an. Manche mit Absicht, andere, ohne dass sie es wissen. Das Ergebnis ist das Gleiche.«
Graendal lauschte nachdenklich. Aran'gar behauptete, dass die Rebellen die Burg schließlich erobern würden, obwohl sich Graendal da gar nicht so sicher war. Wer würde den Sieg davontragen, das Kind oder die Närrin? Aber spielte das überhaupt eine Rolle?
»Und Ihr?«, fragte Moridin Demandred.
»Meine Herrschaft ist sicher«, sagte Demandred. »Ich bereite mich auf den Krieg vor. Wir werden bereit sein.«
Graendal wartete ungeduldig darauf, dass er mehr sagte, aber Moridin drängte ihn nicht. Trotzdem war das immer noch mehr, als sie selbst hatte in Erfahrung bringen können. Anscheinend hatte Demandred einen Thron und die dazugehörigen Heere. Die sich versammelten. Es erschien immer wahrscheinlicher, dass es die Grenzländer waren, die durch den Osten marschierten.
»Ihr dürft euch beide zurückziehen«, sagte Moridin.
Mesaana regte sich sichtlich über diese Entlassung auf, aber Demandred drehte sich einfach um und ging. In Gedanken nickte Graendal; sie würde ihn im Auge behalten müssen. Der Große Herr favorisierte das Handeln, und oft erhielten diejenigen die beste Belohnung, die ihm ganze Heere bringen konnten. Demandred konnte sehr gut ihr wichtigster Rivale sein - natürlich nach Moridin.
Sie hatte er nicht entlassen, also blieb sie sitzen, während sich die anderen beiden zurückzogen. Moridin blieb stehen, wo er war, den einen Arm auf den Kaminsims gelegt. Eine Weile herrschte Schweigen in dem viel zu schwarzen Raum, dann trat ein Diener in einer schneidigen roten Uniform ein und brachte zwei Pokale. Er war ein hässlicher Kerl mit einem flachen Gesicht und buschigen Augenbrauen, der keinen zweiten Blick wert war.
Sie nahm einen Schluck und schmeckte neuen Wein, etwas herb, aber nicht schlecht. Es wurde immer schwerer, guten Wein zu finden; die Berührung des Großen Herrn verdarb alles auf der Welt, zerstörte die Nahrung und ruinierte selbst die Dinge, die eigentlich keiner hätte ruinieren dürfen.
Moridin schickte den Diener mit einer Geste fort; seinen Pokal rührte er nicht an. Natürlich fürchtete Graendal Gift. Das tat sie immer, wenn sie aus dem Glas eines anderen trank. Aber es gab keinen Grund, dass Moridin sie vergiftete. Er war der Nae'blis. Während sich die meisten von ihnen weigerten, ihm ihre Unterwürfigkeit zu zeigen, zwang er ihnen immer mehr seinen Willen auf und drängte sie in Positionen als seine Untergebenen. Hätte er es gewollt, so hätte er Graendal auf alle möglichen Arten exekutieren lassen können, und der Große Herr würde ihn gewähren lassen. Also trank sie und wartete ab.
»Habt ihr Euch viel aus dem Gehörten zusammengereimt, Graendal?«, fragte er dann.
»So viel, wie möglich war«, antwortete sie wohlüberlegt.
»Ich weiß, wie sehr Ihr Euch nach Informationen verzehrt. Moghedien ist als die Spinne bekannt, die aus der Ferne an ihren Fäden zupft, aber Ihr seid in vielerlei Hinsicht besser als sie. Sie webt so viele Netze, dass sie sich in ihnen verfängt. Ihr seid vorsichtiger. Ihr schlagt nur dann zu, wenn es klug ist, scheut Euch aber nicht vor dem Konflikt. Der Große Herr erkennt Eure Initiative an.«
»Mein lieber Moridin«, sagte sie lächelnd. »Ihr schmeichelt mir.«
»Spielt nicht mit mir, Graendal«, sagte er mit harter Stimme. »Hört Euch Eure Komplimente an und schweigt.«
Sie zuckte zurück, als hätte man sie geschlagen, sagte aber kein Wort mehr.
»Es war eine Belohnung, dass Ihr den beiden zuhören durftet«, fuhr Moridin fort. »Der Nae'blis ist auserwählt worden, aber unter der Herrschaft des Großen Herrn wird es andere hohe ruhmreiche Positionen geben. Manche werden höher als andere sein. Der heutige Tag war ein Vorgeschmack auf die Privilegien, die Ihr genießen könntet.«
»Ich lebe nur, um dem Großen Herrn zu dienen.«
»Dann dient ihm hiermit.« Moridin blickte sie an. »Al'Thor geht nach Arad Doman. Er soll unbeschadet leben, bis er mir an jenem letzten Tag gegenübersteht. Aber man darf ihm nicht erlauben, in Eurem Land Frieden zu stiften. Er wird versuchen, die Ordnung wiederherzustellen. Ihr müsst einen Weg finden, das zu verhindern.«
»Es wird geschehen.«
»Dann geht«, sagte Moridin und schwenkte ruckartig die Hand.
Sie stand nachdenklich auf und ging in Richtung Tür.
»Und Graendal«, sagte er.
Sie zögerte, sah ihn an. Er stand gegen den Kaminsims gelehnt, wandte ihr größtenteils den Rücken zu. Er schien ins Leere zu starren, einfach auf die schwarzen Steine der gegenüberliegenden Wand. Auf eine seltsame Weise hatte er eine große Ähnlichkeit mit al'Thor - von dem sie dank ihrer Spione zahllose Zeichnungen hatte -, wenn er so stand.
»Das Ende ist nah«, sagte er. »Das Rad hat ächzend seine letzte Umdrehung hinter sich gebracht, die Uhr ist abgelaufen, die Schlange hat ihren letzten Hauch getan. Er muss den Herzschmerz erleben. Er muss die Enttäuschungen erleben, und er muss das Leid erleben. Macht ihn damit bekannt. Und Ihr werdet belohnt.«
Sie nickte, dann trat sie durch das bereitgestellte Wegetor zurück in ihre Festung in den Bergen von Arad Doman.
Um zu planen.
Rodel Ituraldes Mutter, die nun schon seit dreißig Jahren in den Lehmhügeln seiner Domani-Heimat begraben lag, hatte ein Sprichwort ganz besonders zu schätzen gewusst: »Es wird immer schlimmer, bevor es besser wird.« Sie hatte es gesagt, als sie ihm als Jungen seinen kranken Zahn gezogen hatte, ein Leiden, das er sich geholt hatte, als er mit den anderen Dorfjungen mit dem Schwert gespielt hatte. Sie hatte es gesagt, als er seine erste Liebe an einen jungen Lord verloren hatte, der einen mit Federn verzierten Hut trug und dessen weiche Hände genau wie das mit Juwelen verzierte Schwert bewiesen, dass er nie einen richtigen Kampf erlebt hatte. Und sie hätte es jetzt gesagt, hätte sie neben ihm auf dem Kamm gestanden und zugesehen, wie die Seanchaner auf die Stadt in dem flachen Tal unten zumarschierten.
Er studierte Darluna durch sein Fernglas, beschattete das Ende mit der linken Hand; der Wallach, auf dem er saß, stand still im Abendlicht da. Er und mehrere seiner Domani hielten sich in der Nähe einer kleinen Baumgruppe auf. Es hätte schon des Glücks des Dunklen Königs bedurft, damit die Seanchaner ihn entdeckten. Selbst mit Ferngläsern.
Es wird immer schlimmer, bevor es besser wird. Unter dem Hintern der Seanchaner hatte er ein Feuer entzündet, als er auf der Ebene von Almoth und bis nach Tarabon hinein ihre Nachschubposten zerstörte. Und darum hätte es ihn nicht überraschen dürfen, ein so großes Heer zu sehen - mindestens hundertfünfzigtausend Mann -, das gekommen war, um den Brand zu löschen. Es verriet einen gewissen Respekt. Sie unterschätzten ihn nicht, diese seanchanischen Invasoren. Er wünschte, sie hätten es getan.
Ituralde schwenkte das Fernglas und musterte eine Gruppe Reiter. Sie ritten paarweise, die eine Frau des Pärchens trug Grau, die andere Rot und Blau. Sie waren viel zu weit entfernt, um selbst mit dem Fernglas die aufgestickten Blitze auf den Kleidern in Rot und Blau erkennen zu können, genauso wenig konnte er die Ketten sehen, die jedes Paar miteinander verbanden. Damane und Sul'dam.
Dieses Heer führte mindestens hundert Paare mit sich, vielleicht auch mehr. Und hätte das nicht schon ausgereicht, konnte er am Himmel eine der fliegenden Bestien sehen, die näher kam, damit ihr Reiter dem General eine Botschaft zuwerfen konnte. Mit solchen Kreaturen für ihre Späher hatte die seanchanische Armee einen unerhörten Vorteil. Ituralde hätte zehntausend Soldaten für eine der fliegenden Bestien eingetauscht. Andere Kommandanten hätten lieber eine Damane gehabt, die Blitze schleudern und die Erde erschüttern konnte, aber genau wie Kriege wurden auch Schlachten genauso oft durch Informationen gewonnen wie durch Waffen.