Die Saldaeaner arbeiteten schnell; sie trugen ihre kurzen Mäntel, während sie sich um ihre Pferde kümmerten und Posten aufstellten. Andere holten Schaufel voll Erde von dem Hügel der Asha'man und benutzten sie für den Wall. Rand entging nicht der Unmut auf vielen saldaeanischen Gesichtern. Sie schlugen nicht gern Lager in bewaldeten Gegenden auf, nicht einmal so spärlich mit Kiefern bewachsenen wie dieser Hügel. Bäume erschwerten Kavallerieangriffe und konnten den Vorstoß von Feinden unterstützen.
Davram Bashere ritt langsam durch das Lager und bellte Befehle durch seinen dichten Schnurrbart. Neben ihm ging Lord Tellaen, ein korpulenter Mann in einem langen Mantel mit einem schmalen Domani-Schnurrbart. Er war ein Bekannter von Bashere.
Lord Tellaen ging ein großes Risiko ein, indem er Rand Unterschlupf gewährte; die Truppen des Wiedergeborenen Drachen aufzunehmen konnte man ihm als Verrat auslegen. Aber wer sollte ihn bestrafen? In Arad Doman herrschte das Chaos, der Thron wurde von mehreren Rebellenfraktionen bedroht. Und dann war da der große Domani-General Rodel Ituralde und sein erstaunlich effektiver Krieg gegen die Seanchaner im Süden.
Wie seine Männer trug Bashere nur einen kurzen blauen Mantel ohne Harnisch. Außerdem trug er die voluminösen Hosen, die er bevorzugte; die Beine waren in die kniehohen Stiefel gestopft. Was hielt Bashere wohl davon, sich in Rands ta'veren-Netz verfangen zu haben? Auch wenn er nicht im direkten Widerspruch zum Willen seiner Königin handelte, erfüllte er ihn auch nicht gerade. Wie lange war es her, dass er seiner rechtmäßigen Herrscherin Bericht erstattet hatte? Hatte er Rand nicht versprochen, dass die Unterstützung seiner Königin rasch erfolgen würde? Wie viele Monate war das jetzt her?
Ich bin der Wiedergeborene Drache, dachte Rand, ich breche alle Schwüre und Vereinbarungen. Alte Lehnspflichten sind nicht wichtig. Nur Tarmon Gai'don zählt. Tarmon Gai'don und die Diener des Schatten.
»Ich frage mich, ob wir Graendal hier finden werden«, sagte er nachdenklich.
»Graendal?«, fragte Min. »Wie kommst du darauf, dass sie hier sein könnte?«
Rand schüttelte den Kopf. Asmodean hatte behauptet, Graendal sei in Arad Doman, aber das war vor Monaten gewesen. War sie noch immer hier? Es erschien plausibel; es war eine der wenigen großen Nationen, in denen sie sein konnte. Graendal hatte gern eine verborgene Machtbasis weitab von den anderen Verlorenen. Sie würde sich nicht in Andor, Tear oder Illian niedergelassen haben. Und sie würde sich auch nicht in den Ländern des Südwestens erwischt haben lassen, nicht bei der Invasion der Seanchaner.
Irgendwo würde sie einen verborgenen Rückzugsort haben. So operierte sie. Vermutlich in den Bergen, irgendwo hier an einem abgeschiedenen Ort im Norden. Er konnte sich nicht sicher sein, dass sie in Arad Doman war, aber nach dem zu urteilen, was er von ihr wusste, fühlte es sich richtig an. Was Lews Therin von ihr wusste.
Aber es war nur eine Möglichkeit. Er würde vorsichtig sein müssen, nach ihr Ausschau halten. Jeder Verlorene, den er entfernen konnte, würde die Letzte Schlacht viel einfacher machen. Es würde ...
Leise Schritte näherten sich der geschlossenen Tür.
Rand löste sich von Min, und beide fuhren herum. Er griff mit beiden Händen nach dem Schwert - eine sinnlose Geste. Der Verlust seiner Hand, auch wenn es nicht seine führende Schwerthand gewesen war, würde ihn bei jedem geschickten Gegner verwundbar machen. Obwohl Saidin eine viel mächtigere Waffe darstellte, war sein erster Instinkt immer das Schwert. Das würde er ändern müssen. Oder es würde ihm eines Tages den Tod bringen.
Die Tür öffnete sich, und Cadsuane trat ein, so selbstsicher wie eine Königin an ihrem Hof. Sie war eine stattliche Frau, mit dunklen Augen und ebenmäßigem Gesicht. Das dunkelgraue Haar war oben zu einem Knoten gebunden, daran baumelten ein Dutzend winziger goldener Schmuckstücke - jedes davon ein Ter'angreal oder Angreal. Ihr Kleid bestand aus schlichter dicker Wolle und war an der Taille mit einem gelben Gürtel gebunden; gelbe Stickereien schmückten den Kragen. Das Kleid selbst war grün, was nicht ungewöhnlich war, da das ihre Ajah war. Manchmal fand Rand, dass ihr strenges Gesicht - das völlig alterslos war wie das einer jeden Aes Sedai, die lange genug mit der Macht gearbeitet hatte - viel besser zu einer Roten Ajah gepasst hätte.
Er entspannte die Hand auf dem Schwert, auch wenn er es nicht losließ. Er strich über den mit Stoff umwickelten Griff. Die Waffe war lang und leicht gekrümmt, und die lackierte Scheide war mit einem langen gewundenen Drachen in Rot und Gold bemalt. Sie sah aus, als wäre sie speziell für ihn angefertigt worden - und doch war sie Jahrhunderte alt und erst kürzlich entdeckt worden. Wie seltsam, dass man es erst jetzt gefunden hat, dachte er, und mir zum Geschenk machte, ohne dass sie auch nur eine Ahnung davon hatten, was sie da hielten ...
Das Schwert hatte er sofort angenommen. Es fühlte sich richtig in seiner Hand an. Er hatte niemandem, nicht einmal Min, erzählt, dass er die Waffe erkannt hatte. Und das seltsamerweise nicht einmal aus Lews Therins Erinnerungen - sondern seinen eigenen.
Cadsuane wurde von mehreren anderen Personen begleitet. Nynaeve war keine Überraschung; sie folgte Cadsuane nun oft, wie einer rivalisierenden Katze, die in ihr Territorium eindrang. Vermutlich tat sie es für ihn. Die dunkelhaarige Aes Sedai hatte nie ganz aufgehört, die Seherin von Emondsfelde zu sein, ganz egal, was sie auch behauptete, und sie überließ niemandem auch nur eine Handbreit Boden, von dem sie glaubte, er würde jemanden herumschubsen, der unter ihrem Schutz stand. Natürlich hatte Nynaeve andererseits kein Problem damit, das Herumschubsen selbst zu übernehmen.
Heute trug sie ein graues Kleid mit einer gelben Schärpe über dem Gürtel - eine neue Domani-Mode, wie er gehört hatte - und den traditionellen roten Punkt auf der Stirn. Sie trug eine lange Halskette aus Gold und einen schmalen goldenen Gürtel mit passenden Armreifen und Ringen, die mit großen roten, grünen und blauen Edelsteinen besetzt waren. Der Schmuck war ein Ter'angreal - eigentlich handelte es sich um mehrere und ein Angreal dazu -, das mit dem vergleichbar war, das Cadsuane trug. Rand hatte Nynaeve sich gelegentlich beklagen hören, dass ihr Ter'angreal mit den protzigen Edelsteinen nie zur Kleidung passte, ganz egal, was sie auch versuchte.
Auch wenn Nynaeve keine Überraschung war, so galt das doch für Alivia. Rand hatte gar nicht mitbekommen, dass die ehemalige Damane bei der ... Informationsbeschaffung beteiligt gewesen war. Gut, angeblich war sie in der Einen Macht noch stärker als Nynaeve, also hatte man sie vielleicht zur Unterstützung geholt. Wenn es um die Verlorenen ging, konnte man nie vorsichtig genug sein.
Alivias Haar wies weiße Strähnen auf, und sie war ein wenig größer als Nynaeve. Das Weiß in ihrem Haar war verräterisch - bei jeder Frau, die über die Eine Macht gebot, bedeutete Weiß oder Grau im Haar Alter. Und zwar viele Jahre. Alivia behauptete von sich, vierhundert Jahre alt zu sein. Die ehemalige Damane trug heute ein auffälliges rotes Kleid, als wollte sie provozieren. Die meisten Damane blieben ausgesprochen zurückhaltend, wenn man sie von der Leine befreit hatte. Nicht Alivia - bei ihr war eine Intensität zu bemerken, die beinahe an einen Weißmantel erinnerte.