Ihm entging nicht, wie sich Min versteifte, und er fühlte ihren Unmut. Alivia würde ihm beim Sterben helfen, irgendwann. Das hatte Min eine ihrer Sichten verraten - und Mins Sichten irrten sich nie. Wenn man einmal davon absah, dass sie behauptete, sich bei Moiraine geirrt zu haben. Vielleicht bedeutete das ja, dass er doch nicht ...
Nein. Alles, was ihn auf die Idee brachte, die Letzte Schlacht überleben zu können, alles, was ihm Hoffnung machte, war gefährlich. Er musste hart genug sein, um das zu akzeptieren, was auf ihn zukam. Hart genug, um sterben zu können, wenn die Zeit gekommen war.
Du hast gesagt, wir könnten sterben, sagte Lews Therin in seinem Kopf. Du hast es versprochen!
Cadsuane durchquerte schweigend den Raum und nahm sich einen Becher von dem Gewürzwein, der neben dem Bett auf einem kleinen Serviertischchen stand. Dann setzte sie sich auf einen der roten Zedernstühle. Wenigstens hatte sie nicht verlangt, dass er ihr Wein eingoss. Das wäre ihr durchaus zuzutrauen gewesen.
»Nun, was habt Ihr erfahren?«, wollte er wissen, verließ das Fenster und holte sich selbst einen Becher Wein. Min ging zum Bett - dessen Rahmen aus Zedernholz bestand und ein Kopfteil aus fleckigem rötlich-braunen Holz aufwies -, setzte sich und legte die Hände in den Schoß. Sie ließ Alivia keinen Augenblick lang aus den Augen.
Die Schärfe in Rands Stimme ließ Cadsuane eine Braue heben. Er seufzte und bezwang seinen Ärger. Er hatte sie gebeten, als seine Ratgeberin zu fungieren, und er hatte sich ihren Bedingungen gefügt. Min hatte behauptet, dass er von Cadsuane etwas Wichtiges lernen musste - das war eine weitere ihrer Sichten gewesen -, und um die Wahrheit zu sagen, hatte er ihren Rat bei mehr als einer Gelegenheit als nützlich empfunden. Sie war ihr ständiges Pochen auf Anstandsregeln wert.
»Wie ist die Befragung verlaufen, Cadsuane Sedai?«, fragte er in einem freundlicheren Ton.
Sie lächelte schmal. »Eigentlich ganz gut.«
»Ganz gut?«, fauchte Nynaeve. Sie hatte Cadsuane nicht versprochen, höflich zu sein. »Diese Frau macht einen rasend!«
Cadsuane trank einen kleinen Schluck Wein. »Ich frage mich, was man sonst von einem der Verlorenen erwarten sollte, mein Kind. Sie hatte viel Zeit zum Üben, um ... einen rasend zu machen.«
»Rand, diese ... Kreatur ist ein Stein«, sagte Nynaeve und wandte sich ihm zu. »Trotz tagelanger Verhöre hat sie kaum einen einzigen nützlichen Satz von sich preisgegeben! Sie tut nichts anderes, als uns zu erklären, wie minderwertig und rückständig wir sind, gelegentlich von den Versprechen untermalt, dass sie uns irgendwann alle töten wird.« Nynaeve griff nach ihrem langen Zopf - hielt sich aber zurück, daran zu ziehen. Sie wurde besser darin. Rand fragte sich, warum sie sich überhaupt die Mühe machte - bei ihrem Temperament.
»Trotz ihrer dramatischen Versprechungen«, sagte Cadsuane und nickte Nynaeve zu, »hat das Mädchen hier ihre Situation doch relativ gut begriffen. Pah! Als ich sagte, ›ganz gut‹, solltet Ihr das als ein ›so gut, wie man das unter unseren unerfreulichen Einschränkungen erwarten kann‹ interpretieren. Man kann einem Künstler nicht die Augen verbinden und dann überrascht sein, wenn er nichts zu malen hat.«
»Das ist keine Kunst, Cadsuane«, meinte Rand trocken. »Das ist Folter.« Min tauschte einen Blick mit ihm aus, und er spürte ihre Besorgnis. Sorge um ihn? Er war nicht derjenige, der gefoltert wurde.
Die Kiste, wisperte Lews Therin. Wir hätten in der Kiste sterben sollen. Dann ... dann wäre es vorbei.
Cadsuane trank ihren Wein. Rand hatte seinen noch nicht probiert - er wusste bereits, dass die Gewürze so stark waren, dass sie ihn ungenießbar machten. Und trotzdem besser als die Alternative.
»Ihr drängt uns zu Resultaten, mein Junge«, sagte Cadsuane. »Und doch verweigert Ihr uns die Werkzeuge, die wir brauchen, um sie zu erhalten. Ob Ihr es nun als Folter, Befragung oder Backen bezeichnet, ich nenne es Dummheit. Wenn wir also freie Hand hätten ...«
»Nein!«, knurrte Rand und fuchtelte mit der Hand ... Stumpf ... in ihrer Richtung herum. »Ihr werdet sie nicht bedrohen oder verletzen.«
Zeit in einer dunklen Kiste, nur herausgeholt, um geschlagen zu werden. Er würde nicht zulassen, dass eine in seiner Gewalt befindliche Frau auf die gleiche Weise behandelt wurde. Nicht einmal eine der Verlorenen. »Ihr dürft ihr Fragen stellen, aber ich werde einige Dinge nicht erlauben.«
Nynaeve schnaubte. »Rand, sie ist eine der Verlorenen, sie ist brandgefährlich!«
»Ich bin mir der Bedrohung durchaus bewusst«, erwiderte er tonlos und hielt den Stumpf hoch, wo früher seine linke Hand gewesen war. Die metallische goldene und rote Tätowierung eines Drachenkörpers funkelte im Lampenlicht. Der Kopf war von dem Feuer verschlungen worden, das Rand beinahe getötet hätte.
Nynaeve holte tief Luft. »Ja, nun, dann musst du doch verstehen, dass bei ihr normale Regeln nicht gelten sollten!«
»Ich habe Nein gesagt!«, beharrte er. »Ihr werdet sie verhören, aber ihr werdet sie nicht verletzen!« Nicht eine Frau. Ich werde diesen einen Funken Licht in mir bewahren. Ich habe bereits den Tod und das Leid so vieler Frauen verursacht.
»Wenn es das ist, was Ihr wünscht, mein Junge«, sagte Cadsuane kurz angebunden, »dann wird es auch so geschehen. Aber dann jammert auch nicht, wenn wir ihr nicht einmal entlocken können, was sie gestern zum Frühstück hatte, ganz zu schweigen den Aufenthaltsort der anderen Verlorenen. Langsam stellt sich die Frage, warum Ihr überhaupt darauf besteht, dass wir mit dieser Farce fortfahren. Vielleicht sollten wir sie einfach der Weißen Burg übergeben und es abhaken.«
Rand wandte sich ab. Draußen waren die Soldaten mit den Pferdeleinen fertig. Sie sahen gut aus. Gerade gespannt, ließen sie den Tieren genau das richtige Ausmaß an Bewegungsfreiheit.
Sie der Weißen Burg übergeben? Das würde nie passieren. Cadsuane würde sich Semirhage nicht wegnehmen lassen, bis sie die erwünschten Antworten hatte. Draußen wehte der Wind noch immer; seine Banner flatterten vor seinen Augen.
»Sie an die Weiße Burg übergeben, sagt Ihr?«, meinte er und wandte sich wieder dem Raum zu. »Welcher Weißen Burg denn? Würdet Ihr sie Elaida anvertrauen? Oder meint Ihr die anderen? Ich bezweifle, dass Egwene begeistert wäre, wenn ich ihr eine der Verlorenen in den Schoß fallen lasse. Möglicherweise würde sie Semirhage einfach gehen lassen und mich an ihrer Stelle zum Gefangenen machen. Mich dazu zwingen, vor der Gerechtigkeit der Weißen Burg das Knie zu beugen und mich von der Einen Macht abschneiden, nur damit sie sich eine weitere Kerbe in den Gürtel machen kann.«
Nynaeve runzelte die Stirn. »Rand! Egwene würde niemals ...«
»Sie ist die Amyrlin«, sagte er und leerte seinen Becher mit einem Schluck. Der Wein war genauso widerlich, wie er in Erinnerung hatte. »Aes Sedai bis ins Mark. Ich bin für sie nur eine weitere Spielfigur.«
Ja, sagte Lews Therin. Wir müssen uns von all dem fernhalten. Sie haben sich geweigert, uns zu helfen. Sich geweigert! Meinten, mein Plan sei zu gewagt. Somit blieben mir nur die Hundert Gefährten und keine Frau, um einen Zirkel zu bilden. Verräterinnen! Das ist ihre Schuld. Aber ... aber ich bin derjenige, der Ilyena getötet hat. Warum?
Nynaeve sagte etwas, aber Rand ignorierte sie. Lews Therin, sagte er zu der Stimme. Was hast du gemacht? Die Frauen wollten nicht helfen? Warum?
Aber Lews Therin hatte wieder angefangen zu schluchzen, und seine Stimme wurde leiser.
»Sag es mir!«, brüllte Rand und schleuderte den Becher zu Boden. »Soll man dich doch zu Asche verbrennen, Brudermörder! Rede mit mir!«