»Nein«, sagte die falsche Amyrlin und bedeutete Egwene, noch etwas Suppe zu bringen. »Diese Seanchaner sind nicht das Problem. Die wahre Gefahr liegt in dem völlig fehlenden Gehorsam, den die Aes Sedai zeigen. Was muss ich tun, um diese idiotischen Verhandlungen an den Brücken zu beenden? Wie viele Schwestern werden noch Buße tun müssen, bevor sie meine Autorität akzeptieren?« Sie klopfte mit dem Löffel gegen ihren Suppenteller. Am Serviertisch nahm Egwene die Terrine und löste die Kelle von ihrer Silberklammer.
»Ja«, sagte Elaida nachdenklich, »hätten die Schwestern Gehorsam gezeigt, wäre die Burg nicht gespalten. Diese Rebellen hätten gehorcht, statt wie eine Schar aufgescheuchter Hühner die Flucht zu ergreifen. Hätten die Schwestern Gehorsam gezeigt, hätten wir den Wiedergeborenen Drachen in unserer Gewalt, und diese abscheulichen Männer in ihrer Schwarzen Burg wären schon vor langer Zeit erledigt worden. Was meint Ihr, Meidani?«
»Ich ... Gehorsam ist sicherlich wichtig, Elaida.«
Elaida schüttelte den Kopf, während Egwene Suppe auf ihren Teller löffelte. »Das würde doch jeder sagen, Meidani. Ich habe gefragt, was man tun sollte. Glücklicherweise habe ich selbst eine Idee. Findet Ihr es nicht seltsam, dass die Drei Eide in keiner Weise den Gehorsam gegenüber der Weißen Burg erwähnen? Schwestern können nicht lügen, können für Männer keine Waffen herstellen, mit denen sie andere Männer töten, und können die Macht nur in Selbstverteidigung gegen andere anwenden. Diese Eide erschienen mir immer schon zu lasch. Warum keinen Eid, der Amyrlin zu gehorchen? Wäre dieses einfache Versprechen ein Teil von uns allen, wie viel Schmerz und Probleme hätten wir vermeiden können? Vielleicht ist eine Berichtigung nötig.«
Egwene stand still da. Einst hatte sie selbst die Bedeutung der Eide nicht begriffen. Vermutlich hatten viele Novizinnen und Aufgenommene ihren Nutzen infrage gestellt. Aber wie jede Aes Sedai hatte auch sie erlebt, wie wichtig sie waren. Es waren die Drei Eide, die die Aes Sedai erst ausmachten. Sie trieben die Aes Sedai an, das zu tun, was für die Welt am besten war, aber darüber hinaus waren sie ein Schutz vor Anschuldigungen.
Sie zu verändern ... nun, das wäre ein beispielloses Desaster. Elaida hätte das wissen müssen. Die falsche Amyrlin wandte sich wieder ihrer Suppe zu und lächelte schmal, dachte zweifellos über einen vierten Eid nach, der Gehorsam verlangte. Erkannte sie nicht, dass das die Burg selbst unterminieren würde? Es würde die Amyrlin von einer Anführerin in eine Despotin verwandeln!
Die Wut brodelte in Egwene, dampfte wie die Suppe in ihren Händen. Diese Frau, diese ... Kreatur! Sie war der Grund für den Zwist in der Weißen Burg, sie war diejenige, die die Teilung in Rebellen und Loyalisten erst verursacht hatte. Sie hatte Rand gefangen genommen und geprügelt. Sie war eine Katastrophe!
Egwene fühlte, wie sie zitterte. Noch einen Moment, und sie würde platzen und Elaida die Wahrheit entgegenschleudern. Es brodelte in ihr, und sie konnte es kaum unterdrücken.
Nein!, dachte sie. Wenn ich das tue, endet mein Kampf. Ich verliere meinen Krieg.
Also tat sie das Einzige, was ihr einfiel, um sich aufzuhalten. Sie warf die Suppe zu Boden.
Braune Flüssigkeit spritzte über den feinen Teppich aus roten, gelben und grünen Vögeln im Flug. Elaida fluchte, sprang von ihrem Stuhl auf und wich vor der Pfütze zurück. Von der Flüssigkeit war nichts an ihr Kleid gekommen, was schade war. Egwene nahm ganz ruhig ein Tuch vom Tisch und fing an, die Suppe aufzuwischen.
»Ungeschickte Närrin«, fauchte Elaida.
»Es tut mir leid«, sagte Egwene. »Ich wünschte, das wäre nicht passiert.« Und das stimmte. Sie wünschte, nichts von diesem Abend wäre passiert. Sie wünschte, Elaida hätte nicht die Kontrolle; sie wünschte, die Burg hätte sich nie entzweit. Sie wünschte, sie wäre nicht gezwungen gewesen, die Suppe auf den Boden zu verschütten. Aber das war nun einmal geschehen. Also kümmerte sie sich darum, kniete nieder und schrubbte.
»Dieser Teppich ist mehr wert als dein ganzes Dorf, du Wilde!«, stammelte Elaida. »Meidani, helft ihr!«
Die Graue wehrte sich mit keiner Silbe. Sie eilte los und ergriff einen Kübel Eiswasser, der zum Weinkühlen da gewesen war, dann eilte sie zurück, um Egwene zu helfen. Elaida ging zu einer Tür auf der anderen Zimmerseite, um Diener zu rufen.
»Schickt nach mir«, flüsterte Egwene, als sich Meidani neben sie kniete, um zu helfen.
»Was?«
»Schickt nach mir, um mir Unterricht zu geben«, sagte Egwene leise und schaute zu Elaida hinüber, die ihnen den Rücken zuwandte. »Wir müssen reden.«
Eigentlich hatte sie die Spione von Salidar meiden und Beonin als Botin agieren lassen wollen. Aber sie hatte zu viele Fragen. Warum war Meidani nicht aus der Burg geflohen? Was hatten die Spione vor? Waren noch andere von ihnen von Elaida herbeizitiert und so gründlich demoralisiert worden wie Meidani?
Meidani sah in Elaidas Richtung, dann wieder zu Egwene. »Es mag ja manchmal nicht so aussehen, aber ich bin noch immer Aes Sedai, Mädchen. Ihr könnt mir keine Befehle geben.«
»Ich bin Eure Amyrlin, Meidani«, sagte Egwene ruhig und wrang das nasse Tuch über dem Krug aus. »Und Ihr tätet gut daran, das nicht zu vergessen. Es sei denn, Ihr wollt, dass die Drei Eide durch Schwüre ersetzt werden, Elaida für alle Ewigkeit zu dienen.«
Meidani sah sie nur an und zuckte dann bei Elaidas schrillen Rufen nach der Dienerschaft zusammen. Die arme Frau hatte es offensichtlich in letzter Zeit sehr schwer gehabt.
Egwene legte ihr die Hand auf die Schulter. »Elaida kann abgesetzt werden, Meidani. Die Burg wird wieder vereint. Ich werde dafür sorgen, dass es geschieht, aber wir dürfen den Mut nicht verlieren. Schickt nach mir.«
Meidani musterte sie. »Wie ... wie schafft Ihr das? Es heißt, Ihr werdet drei- oder viermal am Tag bestraft, dass Ihr zwischendurch Geheilt werden müsst, damit man Euch weiter schlagen kann. Wie könnt Ihr das ertragen?«
»Ich ertrage es, weil ich es muss«, sagte Egwene und senkte die Hand. »So wie wir alle das tun, was wir tun müssen. Eure Aufgabe, Elaida zu beobachten, ist sehr schwer, wie ich sehe, aber Ihr solltet wissen, dass Eure Arbeit geschätzt wird.«
Sie wusste nicht, ob man Meidani wirklich geschickt hatte, um Elaida auszuspionieren, aber es war immer besser, wenn eine Frau glauben konnte, dass ihr Leiden für eine gute Sache war. Es schienen die richtigen Worte gewesen zu sein, denn Meidani hob den Kopf, fasste Mut und nickte. »Danke.«
Elaida kehrte zurück, drei Diener im Schlepptau.
»Schickt nach mir«, befahl Egwene noch einmal, dieses Mal flüsternd. »Ich bin eine der wenigen in der Burg, die einen guten Vorwand hat, sich zwischen den verschiedenen Ajah-Quartieren zu bewegen. Ich kann helfen, das zu heilen, was zerbrochen wurde, aber ich werde Eure Hilfe brauchen.«
Meidani zögerte, dann nickte sie. »Also gut.«
»Ihr da!«, keifte Elaida und baute sich vor Egwene auf. »Raus! Ich will, dass Ihr Silviana sagt, dass sie Euch prügelt, wie sie noch nie zuvor eine Frau geprügelt hat! Ich will, dass sie Euch bestraft, Euch dann auf der Stelle Heilt und Euch wieder schlägt! Geht!«
Egwene stand auf und gab ihr Tuch einem der Diener. Dann ging sie zur Tür.
»Und glaubt ja nicht, dass Euch Eure Ungeschicklichkeit von Euren Pflichten entbindet«, fuhr Elaida hinter ihr fort. »Ihr werdet zurückkehren und mich an einem anderen Tag bedienen. Und solltet Ihr dann auch nur einen Tropfen verschütten, lasse ich Euch eine Woche lang in eine Zelle ohne Fenster oder Licht sperren. Habt Ihr das verstanden?«
Egwene verließ den Raum. War diese Frau je eine wahre Aes Sedai gewesen, die ihre Gefühle unter Kontrolle hatte?
Allerdings hatte auch sie die Kontrolle über ihre Gefühle verloren. Sie hätte nie zulassen dürfen, an einen Punkt zu kommen, wo sie gezwungen war, die Suppe fallen zu lassen. Sie hatte unterschätzt, wie wütend einen Elaida machen konnte, aber das würde nicht noch einmal geschehen. Sie beruhigte sich, atmete ein und aus. Zorn half ihr nicht. Man wurde nicht wütend auf das Wiesel, das sich auf den Hof schlich und die Hennen fraß. Man legte einfach eine Falle aus und entledigte sich des Tiers. Wut war sinnlos.