Plötzlich ertönte ein Gong; er erschien laut genug, um die ganze Burg zu erschüttern, donnerte, um alle zu warnen, dass gleich eine Amyrlin erhoben werden würde. Der Gong ertönte erneut, dann noch einmal, die verzierten Türflügel schwangen zurück. Ja, diese Erfahrung unterschied sich völlig von der in dem bescheidenden Holzhaus, in dem sie die Aes Sedai von Salidar erhoben hatten. In vielerlei Hinsicht war ihre Darbietung in Salidar nur eine Probe gewesen.
Die Türflügel verharrten, und Egwene unterdrückte ein Keuchen. Der prächtige Raum mit der Kuppeldecke wies jetzt direkt gegenüber dem Eingang ein hineingesprengtes Loch auf - eine klaffende Lücke. Sie schaute auf den Drachenberg hinaus. Das Gemach war beim Angriff der Seanchaner nicht so schlimm beschädigt worden wie andere; der Schutt war minimal, die Zerstörung reichte kaum über die Außenwand hinaus. Die erhöhte Plattform führte noch immer an der Wand entlang, und die darauf stehenden Stühle waren unbeschädigt. Insgesamt achtzehn, zu Dreiergruppen zusammengestellt, ein jeder lackiert und gepolstert, um die Ajah seiner Benutzerin zu verkünden.
Der Amyrlin-Sitz stand direkt dem Eingang gegenüber, vor dem zerstörten Mauerwerk, die Rückenlehne der weitläufigen Landschaft und dem fernen Drachenberg zugewandt. Wäre der seanchanische Blitz nur ein paar Fuß weiter eingeschlagen, wäre der Sitz zerstört worden. Er war unbeschädigt, wofür man dem Licht danken musste.
Egwene konnte einen Hauch von Farbe riechen. Hatten sie den Sitz in aller Eile umlackiert, damit er wieder alle sieben Farben zeigte? Wenn dem so war, dann hatten sie schnell gearbeitet. Allerdings hatten sie nicht genug Zeit gehabt, um die Sitze der Blauen zu ersetzen.
Egwene sah, dass Saerin, Doesine und Yukiri bei ihren Ajahs saßen. Seaine war auch da und betrachtete Egwene mit ihren so berechnend blickenden blauen Augen. Wie viel Macht hatten diese vier Frauen über die ganzen Geschehnisse gehabt? Die rundgesichtige Suana von den Gelben lächelte ungeniert zufrieden, als sie Egwene betrachtete, und auch wenn die meisten Gesichter den abgeklärten, gefühllosen Ausdruck der Aes Sedai zeigten, spürte Egwene Zustimmung in ihrer Haltung. Oder zumindest fehlende Feindseligkeit. Hinter dieser Entscheidung hatten mehr als nur die vier Jägerinnen der Schwarzen Ajah gestanden.
Saerin stand von ihrem Stuhl im Abschnitt der Braunen auf. »Wer tritt vor den Saal der Burg?«, fragte sie mit weit tragender Stimme.
Egwene zögerte, weil sie noch immer die Sitzenden betrachtete. Ihre Plätze waren in gleichmäßigen Abständen auf der umlaufenden Plattform gruppiert. Zu viele Stühle waren unbesetzt. Es gab nur zwei Grüne Sitzende; Talene war vor Wochen geflohen. Bei den Grauen fehlte Evanellein, die früher am Tag verschwunden war. Velina und Sedore waren ebenfalls weg. Das war nicht gut; beide standen auf Verins Liste von Schwarzen Ajah. Waren sie gewarnt worden? Bedeutete Evanelleins Verschwinden, dass Verin sie übersehen hatte?
Von den Roten Schwestern war ebenfalls keine anwesend. Egwene erinnerte sich unvermittelt, dass Duhara die Burg vor Wochen verlassen hatte - niemand kannte den Grund, aber einige hatten behauptet, Elaida hätte sie auf eine Mission geschickt. Vielleicht erledigte sie Geschäfte der Schwarzen Ajah. Die anderen beiden roten Sitzenden, Javindhra und Pevara, waren auf geheimnisvolle Weise verschwunden.
Damit blieben elf Sitzende übrig. Den alten Burggesetzen zufolge nicht genug, um eine Amyrlin zu erheben - aber die hatte Elaidas Auflösung der Blauen Ajah geändert. Weniger Sitzende bedeutete auch, dass weniger Frauen benötigt wurden, um eine Amyrlin zu erheben, und jetzt waren nur noch elf von ihnen erforderlich. Es würde eben reichen müssen. Wenigstens war jede zurzeit in der Burg anwesende Sitzende über das Ereignis informiert worden; es geschah nicht geheim wie damals Elaidas Erhebung. Und Egwene konnte sich einigermaßen sicher sein, dass keine Schwarze Sitzende für sie aufstehen würde.
Saerin räusperte sich, sah Egwene unsicher an und rief erneut: »Wer tritt vor den Saal der Burg?«
Tesan beugte sich vor, als wollte sie Egwene die richtige Erwiderung zuzischen. Aber Egwene hinderte sie, indem sie die Hand hob.
Da gab es etwas, das Egwene in Betracht gezogen hatte, etwas Dreistes. Aber es war angebracht. Das wusste sie. Sie konnte es fühlen. »Die Rote Ajah ist in Ungnade?«, fragte sie Tesan leise.
Die Weiße nickte; ihre vielen Zöpfe strichen über ihre Wange. »Um die Roten braucht Ihr Euch keine Sorgen zu machen«, sagte sie mit ihrem hellen tarabonischen Akzent. »Nach Elaidas Verschwinden haben sie sich in ihr Quartier zurückgezogen. Die Sitzenden hier hatten Sorge, dass die Roten schnell neue Sitzende wählen und sie herschicken würden. Ich glaube, ein paar … kurze und bündige Botschaften vom Saal der Burg reichten aus, um sie einzuschüchtern.«
»Und Silviana Brehon? Ist sie noch immer eingekerkert?«
»Soweit ich weiß ja, Mutter«, sagte Tesan, vergaß sich kurz und benutzte den Titel, obwohl Egwene noch nicht formell vom Saal erhoben worden war. »Sorgt Euch nicht. Leane wurde freigelassen. Wir haben sie nach draußen zu den anderen Rebellen gebracht, die Eure Vergebung erwarten.«
Egwene nickte nachdenklich. »Lasst Silviana sofort herbringen, in den Saal den Burg.«
Tesan runzelte die Stirn. »Mutter, ich glaube nicht, dass das der richtige Zeitpunkt ist…«
»Tut es einfach«, zischte Egwene, dann wandte sie sich dem Saal zu. »Jemand, der ergeben im Licht wandelt«, verkündete sie mit fester Stimme.
Saerin entspannte sich. »Wer tritt vor den Saal der Burg?«
»Jemand, der bescheiden im Licht wandelt«, erwiderte Egwene. Sie starrte jede Sitzende nacheinander an. Eine feste Hand. Sie würde streng sein müssen. Sie brauchten Führung.
»Wer tritt vor den Saal der Burg?«, kam Saerin zum Ende.
»Jemand, der auf den Ruf des Saals hin kommt«, sagte Egwene, »ergeben und bescheiden im Licht wandelt und nur darum bittet, den Willen des Saals annehmen zu dürfen.«
Die Zeremonie ging weiter, jede Sitzende entblößte sich bis zur Taille, um zu beweisen, dass sie eine Frau war. Egwene tat das Gleiche und errötete kaum bei dem Gedanken an Gawyn, der offensichtlich geglaubt hatte, sie würde ihn zu der Zeremonie mitnehmen.
»Wer erhebt sich für diese Frau?«, fragte Saerin, nachdem sich die Sitzenden wieder angekleidet hatten. Egwene musste bis zur Taille nackt bleiben, und die Brise, die durch die zerstörte Wand eindrang, fühlte sich kühl auf ihrer Haut an. »Und verpflichtet sich ihr, Herz für Herz, Seele für Seele, Leben für Leben?«
Yukiri, Seaine und Suana standen schnell auf. »Ich verpflichte mich ihr«, verkündete jede von ihnen.
Beim ersten Mal war Egwene bei dieser Zeremonie entsetzt gewesen. Bei jedem Schritt hatte sie befürchtet, einen Fehler zu machen. Schlimmer noch, sie hatte befürchtet, dass sich alles als Fehler oder List herausstellte.
Die Furcht war verschwunden. Als die rituellen Fragen gestellt wurden - als Egwene drei Schritte vortrat und auf dem glatten Boden niederkniete, der aufgrund Elaidas Befehl nur mit sechs Farben neu gestrichen worden war, die alle der Flamme von Tar Valon entsprangen -, durchschaute sie den Pomp und betrachtete den Kern des Geschehens. Diese Frauen wurden von schrecklicher Angst beherrscht. So wie damals die Frauen in Salidar. Der Amyrlin-Sitz war eine Macht der Stabilität, und sie griffen danach.
Warum hatte man gerade Egwene gewählt? Anscheinend beide Male aus dem gleichen Grund. Weil sie die Einzige war, auf die sich alle hatten verständigen können. Da waren lächelnde Gesichter in der Gruppe. Aber es war das Lächeln von Frauen, die es geschafft hatten, Rivalinnen vom Sitz fernzuhalten. Entweder das oder das Lächeln von Frauen, die erleichtert waren, dass irgendjemand vortrat und die Führung übernahm. Und vielleicht lächelten einige auch, weil sie sich nicht auf den Sitz setzen mussten. In jüngerer Vergangenheit war er voller Gefahren, Zwietracht und zwei dramatischen Tragödien gewesen.