Damals in Salidar hatte Egwene die Frauen für Närrinnen gehalten. Jetzt war sie erfahrener und hoffentlich auch weiser. Ihr war bewusst, dass sie keine Närrinnen gewesen waren. Sie waren Aes Sedai - die ihre Furcht durch übertriebene Vorsicht zu verbergen versucht hatten. Und zugleich durch Unverschämtheit. Die jemanden auserwählt hatten, bei dem es ihnen egal war, ihn scheitern zu sehen. Die ein Risiko eingegangen waren, sich selbst dabei aber nicht in direkte Gefahr gebracht hatten.
Diese Frauen hier taten das Gleiche. Sie versteckten ihre Furcht hinter glatten Gesichtern und beherrschten Gesten. Als für die Sitzenden der Augenblick kam, sich für Egwenes Unterstützung zu erheben, war sie nicht überrascht, dass alle elf aufstanden. Nicht eine einzige Stimme, die sich gegen sie aussprach. Bei dieser Zeremonie würden keine Füße gewaschen werden.
Nein, sie war nicht überrascht. Die Frauen wussten, dass es keine andere Möglichkeit gab, nicht mit einem Heer auf ihrer Schwelle, nicht, wo Elaida so gut wie tot war. Aes Sedai taten immer so, als hätte es niemals Streit gegeben, das war eben ihre Art. Es musste Einigkeit erzielt werden.
Saerin erschien überrascht, dass niemand sitzen geblieben war, wenn auch nur um zu beweisen, dass man sie nicht unter Druck setzen konnte. Tatsächlich schien mehr als eine der Sitzenden davon überrascht zu sein, und Egwene hätte sich keineswegs gewundert, wenn sie ihre Entscheidung so schnell aufzustehen nun bereuten. Als einzige Person sitzen zu bleiben konnte einem eine gewisse Macht verschaffen, denn es hätte Egwene gezwungen, ihr die Füße zu waschen und um die Erlaubnis zu bitten, ihr dienen zu dürfen. Natürlich hätte das die Frau auch in den Mittelpunkt gerückt und ihr die Abneigung der neuen Amyrlin eingebracht.
Langsam nahmen die Frauen wieder ihre Plätze ein. Egwene brauchte keine Anleitung, und man bot ihr auch keine an. Sie stand auf und ging durch den Saal, ihre Füße glitten lautlos über den Stein mit der aufgemalten Flamme. Eine Windböe fuhr durch den Raum, zupfte an Stolen und strich über Egwenes nackte Haut. Es sagte etwas über die Stärke dieses Saals, dass sie sich entschieden hatten, trotz des schwindelerregenden Ausblicks in der gegenüberliegenden Wand hier zusammenzutreten.
Saerin traf vor dem Sitz mit Egwene zusammen. Die Altaranerin fing an, Egwenes Oberteil vorsichtig zuzuknöpfen, dann hob sie ehrfürchtig die Stola der Amyrlin vom Sitz. Es handelte sich um die mit den sieben Farben, die man von dort hervorgeholt hatte, wo auch immer Elaida sie hingeworfen hatte. Saerin musterte Egwene einen Moment lang und wog die Stola in den Händen, als wollte sie ihren Wert ermessen.
»Seid Ihr sicher, dass Ihr diese Last tragen wollt, Kind?«, fragte sie kaum hörbar. Das gehörte nicht zu der Zeremonie.
»Ich trage sie bereits, Saerin.« Egwenes Erwiderung war beinahe ein Flüstern. »Elaida warf sie weg, als sie versuchte, sie auseinanderzuschneiden und nach Belieben zu teilen. Ich hob sie auf und trug sie seitdem. Ich würde sie bis in den Tod tragen. Und das werde ich auch tun.«
Saerin nickte. »Ich glaube, darum verdient Ihr sie auch«, sagte sie. »Ich bezweifle, dass auch nur etwas in der Geschichte sich mit den kommenden Tagen vergleichen lässt. Die Gelehrten der Zukunft werden auf unsere Tage zurückblicken und sie schwieriger, erschöpfender für Geist, Körper und Seele einschätzen als die Zeit des Wahnsinns oder der Zerstörung der Welt selbst.«
»Dann ist es gut, dass die Welt uns hat, nicht wahr?«, fragte Egwene.
Saerin zögerte, nickte dann aber. »Vermutlich ja.« Sie hob die Stola und legte sie Egwene auf die Schultern. »Ihr werdet im Glanz des Lichts zum Amyrlin-Sitz erhoben!«, verkündete sie, und die anderen Sitzenden stimmten ein, »auf dass die Weiße Burg ewig bestehen möge. Egwene al’Vere, die Hüterin der Siegel, die Flamme von Tar Valon, der Amyrlin-Sitz!«
Egwene drehte sich um und sah die Frauen an, dann setzte sie sich. Und es kam ihr so vor, als kehrte sie nach einer sehr langen Reise nach Hause zurück. Die Welt duckte sich unter der Hand des Dunklen Königs, aber in dem Moment, in dem sie auf diesem Sitz Platz nahm, fühlte sie sich etwas besser an, ein kleines bisschen sicherer.
Die Frauen stellten sich in der Reihenfolge ihres Alters vor Egwene auf, Saerin ganz am Ende. Eine nach der anderen machte einen tiefen Knicks, erbat ihre Erlaubnis zu dienen, küsste ihren Großen Schlangenring und trat dann zur Seite. Während dies geschah, bemerkte Egwene, dass Tesan endlich zurückgekehrt war. Sie warf einen verstohlenen Blick in den Raum, um sich zu vergewissern, dass jeder bekleidet war, dann führte sie einen Augenblick später vier Wächter mit der Flamme von Tar Valon auf der Brust in den Raum. Egwene unterdrückte ein Seufzen. Anscheinend brachte man Silviana in Ketten.
Nachdem sie Egwenes Ring geküsst hatten, kehrten die Sitzenden auf ihre Plätze zurück. Die Zeremonie war noch nicht ganz beendet, aber der wichtigste Teil war erledigt. Egwene war endlich und endgültig die Amyrlin. Auf diesen Augenblick hatte sie so lange gewartet.
Jetzt war die Zeit für ein paar Überraschungen gekommen.
»Nehmt der Gefangenen die Ketten ab«, befahl Egwene.
Zögernd gehorchten die Soldaten außerhalb des Raumes; Eisen klirrte. Die Sitzenden sahen sich verwirrt an.
»Silviana Brehon!«, rief Egwene und stand auf. »Ihr dürft vor den Amyrlin-Sitz treten.«
Die Soldaten traten zur Seite und gestatteten Silviana den Zutritt. Ihr rotes Gewand war einst sehr kostbar gewesen, aber man hatte sie während der von Elaida angeordneten Gefangenschaft nicht gut behandelt. Das schwarze Haar, das sie normalerweise als Knoten trug, war nur flüchtig geflochten. Das Kleid war zerknittert und schmutzig an den Knien. Und doch war ihr kantiges Gesicht ruhig und gelassen.
Überraschenderweise kniete sie vor Egwene nieder, nachdem sie den Raum durchquert hatte. Egwene senkte die Hand und ließ sich von der Frau den Ring küssen.
Die Sitzenden sahen verwirrt zu, denn Egwene hatte die Zeremonie unterbrochen. »Mutter«, fragte Yukiri schließlich. »Ist das der beste Zeitpunkt, um ein Urteil zu fällen?«
Egwene zog die Hand von der knienden Silviana zurück und sah Yukiri direkt an, dann richtete sie den Blick auf die anderen Sitzenden. »Ihr alle habt große Schande auf Euch geladen«, verkündete sie.
Aes Sedai mit starren Gesichtern hoben die Brauen. Sie erschienen wütend. Aber dazu hatten sie kein Recht! Ihre Wut war nichts verglichen mit der, die Egwene verspürte.
» Das da!«, sagte Egwene und zeigte auf die zerstörte Wand. »Dafür tragt Ihr die Verantwortung.« Sie zeigte auf die noch immer kniende Silviana. »Dafür tragt ihr die Verantwortung. Ihr tragt dafür die Verantwortung, wie sich unsere Schwestern in den Korridoren begegnen, und Ihr tragt die Verantwortung dafür, dass Ihr die Spaltung der Burg solange untätig zugelassen habt. Viele von Euch tragen die Verantwortung dafür, dass es überhaupt erst zu der Spaltung gekommen ist!
Ihr seid eine Schande. Die Weiße Burg - seit dem Zeitalter der Legenden der Stolz des Lichts und die Macht für Stabilität und Wahrheit - ist Euretwegen beinahe vernichtet worden.«
Augen quollen hervor, ein paar der Frauen rangen nach Luft. »Elaida …«, fing eine an.
»Elaida war verrückt, und Ihr alle habt das gewusst!«, sagte Egwene streng. Sie stand hoch aufgerichtet da und starrte alle nieder. »Das habt Ihr diese ganzen letzten Monate gewusst, als sie unabsichtlich daran arbeitete, uns zu vernichten. Beim Licht, viele von Euch haben das vermutlich sogar gewusst, als Ihr sie erhoben habt!
Es hat schon zuvor närrische Amyrlin gegeben, aber keine hätte es beinahe geschafft, die ganze Burg niederzureißen! Ihr kontrolliert die Amyrlin. Ihr sollt sie davon abhalten, solche Dinge zu tun! Ihr habt ihr erlaubt, eine ganze Ajah aufzulösen? Was habt Ihr Euch nur dabei gedacht? Wie konntet Ihr nur zulassen, dass die Burg so tief sinkt? Und ausgerechnet auch noch dann, wo der Wiedergeborene Drache auf der Welt wandelt!