Er stieß die Tür zu seinen Gemächern auf und brachte die draußen Wache stehenden Verteidiger mit einer unwirschen Geste zum Schweigen. Er war nicht in der Stimmung für ihren Unsinn.
Er stürmte hinein und sah ärgerlich, dass die Wächter jemandem den Zutritt gestattet hatten. Eine fremde Gestalt wandte ihm den Rücken zu, schaute durch die offene Balkontür hinaus. »Was …«, fing Rand an.
Der Mann drehte sich um. Es war kein Fremder. Nicht einmal annähernd.
Es war Tarn. Sein Vater.
Rand taumelte zurück. War das eine Erscheinung? Irgendein schäbiger Trick des Schwarzen Königs? Aber nein, es war Tarn. Die freundlichen Augen des Mannes waren unverkennbar. Auch wenn er einen Kopf kleiner als Rand war, war Tarn doch immer verlässlicher als die Welt um ihn herum erschienen. Seine breite Brust und die starken Beine konnten nicht bewegt werden, aber das lag nicht an seiner Kraft - auf seinen Reisen hatte Rand viele Männer kennengelernt, die stärker waren. Kraft war vergänglich. Tarn war echt. Bestimmt und beständig. Allein sein Anblick spendete Trost.
Aber Trost stand im Widerspruch zu dem, der Rand geworden war. Seine Welten - die Person, die er gewesen war, und die Person, zu der er geworden war - waren wie ein Wasserguss, der auf einen glühend heißen Stein traf. Der eine zerbrach, der andere verwandelte sich in Dampf.
Tarn stand zögernd in der Balkontür, angestrahlt von zwei flackernden Stehlampen. Rand verstand Tams Zögern. Sie waren nicht Blutvater und Sohn. Rands Blutvater war Janduin gewesen, Clanhäuptling der Taardad Aiel. Tarn war bloß der Mann, der Rand an den Hängen des Drachenberges gefunden hatte.
Bloß der Mann, der ihn großgezogen hatte. Bloß der Mann, der ihm alles beigebracht hatte, was er wusste. Bloß der Mann, den Rand liebte und verehrte, und das würde sich nie ändern, ganz egal, wie ihre Blutverbindung war.
»Rand.« Tams Stimme klang unbehaglich.
»Bitte«, sagte Rand und bezwang seine Überraschung. »Bitte setz dich doch.«
Tarn nickte. Er schloss die Balkontür, dann ging er zu einem der Stühle. Rand setzte sich ebenfalls. Sie starrten einander quer durch den Raum an. Die Steinwände waren nackt; Rand zog sie ohne Gemälde oder Wandbehänge vor. Der Teppich war gelb und rot und so groß, dass er alle vier Wände erreichte.
Das Zimmer fühlte sich zu perfekt an. Eine Vase mit frisch geschnittenen Daralilien und Calimablüten stand dort, genau da, wo sie stehen musste. Die Stühle in der Mitte, viel zu korrekt arrangiert. Das Zimmer sah nicht bewohnt aus. Wie so viele Orte, an denen Rand gewesen war, war es nicht sein Zuhause. Er hatte kein richtiges Zuhause mehr gehabt, seit er die Zwei Flüsse verlassen hatte.
Tarn saß auf einem Stuhl, Rand auf einem anderen. Rand wurde sich bewusst, dass er noch immer den Zugangsschlüssel hielt, also stellte er ihn auf dem mit Sonnen gemusterten Teppich ab. Tarn warf einen Blick auf Rands Stumpf, sagte aber nichts. Er verschränkte die Hände, wünschte sich vermutlich, etwas für sie zu tun zu haben. Tarn hatte immer lieber über unangenehme Dinge gesprochen, wenn er seine Hände beschäftigen konnte, ob er nun die Riemen eines Geschirrs kontrollierte oder ein Schaf schor.
Beim Licht, dachte Rand und verspürte den plötzlichen Drang, Tarn in eine Umarmung zu reißen. Erinnerungen und das Gefühl von Nähe stiegen wie eine Flut in ihm auf. Tarn, der für Bei Tine Branntwein in die Weinquellen-Schenke lieferte. Das Vergnügen, das Tarn an seiner Pfeife hatte. Seine Geduld und seine Freundlichkeit. Das Schwert mit dem Reihenzeichen, das ihm gehörte. Ich kenne ihn so gut. Und doch habe ich in letzter Zeit nur selten an ihn gedacht.
»Wie …«, sagte Rand. »Tarn, wie kommst du her? Wie hast du mich gefunden?«
Tarn kicherte leise. »In den letzten Tagen hast du ununterbrochen Boten in die größten Städte der Welt geschickt und ihnen befohlen, ihre Heere für den Krieg aufzustellen. Ich glaube, ein Mann müsste blind, taub und betrunken sein, um nicht zu wissen, wo du zu finden bist.«
»Aber meine Boten sind nicht zu den Zwei Flüssen gereist!«
»Dort war ich auch nicht«, sagte Tarn. »Ein paar von uns haben an Perrins Seite gekämpft.«
Natürlich, dachte Rand. Nynaeve musste mit Perrin Kontakt aufgenommen haben. Sie machte sich wegen ihm und Mat ja so große Sorgen. Es wäre leicht für Tarn gewesen, sie auf dem Rückweg zu begleiten.
Führten sie diese Unterhaltung tatsächlich? Rand hatte den Gedanken aufgegeben, zu den Zwei Flüssen zurückzukehren, seinen Vater jemals wiederzusehen. Mit ihm sprechen zu können fühlte sich so gut an, auch wenn es zugleich unbehaglich war. Tams Gesicht wies mehr Falten als zuvor auf, und ein paar Strähnen in seinem Haar hatten endlich aufgegeben und waren ergraut, aber er war noch immer derselbe.
So viele Menschen in Rands Umgebung hatten sich verändert - Mat, Perrin, Egwene, Nynaeve -, es war ein Wunder, jemandem aus seinem alten Leben zu begegnen, der derselbe geblieben war. Tarn, der Mann, der Rand beigebracht hatte, das Nichts zu suchen. Tarn war ein Felsen, der ihm stärker als der Stein von Tear vorkam.
Rands Stimmung verdüsterte sich. »Warte. Perrin hat Männer aus den Zwei Flüssen bei sich?«
Tarn nickte. »Er brauchte uns. Der Junge hat einen Hochseilakt hingelegt, der jeden Menagerieartisten beeindrucken würde. Mit den Seanchanern und den Männern des Propheten, ganz zu schweigen von den Weißmänteln und der Königin …«
»Der Königin?«
»Aye. Obwohl sie sagt, sie sei keine Königin mehr. Elaynes Mutter.«
»Sie lebt?«, fragte Rand.
»Das tut sie, auch wenn sie das nicht den Weißmänteln zu verdanken hat«, sagte Tarn angewidert.
»Hat sie Elayne gesehen?«, wollte Rand wissen. »Du hast Weißmäntel erwähnt - wie ist er denn Weißmänteln begegnet?« Tarn setzte zu einer Antwort an, aber Rand hob abwehrend die Hand. »Nein. Warte. Ich kann mir einen Bericht von Perrin holen, wenn ich will. Du sollst in unserer gemeinsamen Zeit nicht den Boten spielen.«
Tarn lächelte schmal.
» Was?«, fragte Rand.
»Ach, mein Sohn«, sagte er und schüttelte den Kopf, die breiten, von der Arbeit gezeichneten Hände noch immer verschränkt, »sie haben es wirklich getan. Sie haben einen König aus dir gemacht. Was ist nur aus dem schlaksigen Knaben geworden, der Bei Tine so bestaunt hat? Wo ist der unsichere Junge, den ich vor all den Jahren großgezogen habe?«
»Er ist tot«, sagte Rand sofort.
Tarn nickte langsam. »Das sehe ich. Du … weißt es also … das mit…«
»Dass du nicht mein Vater bist?«, riet Rand.
Tarn nickte, dann senkte er den Blick.
»Ich wusste es seit dem Tag, an dem ich Emondsfelde verließ«, erwiderte Rand. »Du hast im Fieber davon gesprochen. Eine Weile lang wollte ich es nicht glauben, aber schließlich habe ich mich davon überzeugen lassen.«
»Ja«, sagte Tarn. »Das verstehe ich. Ich …« Seine Hände verkrampften sich. »Ich wollte dich nie anlügen, Sohn. Oder, nun, ich sollte dich wohl nicht so nennen, nicht wahr?«
Du kannst mich Sohn nennen, dachte Rand. Du bist mein Vater. Ganz egal, was manche auch sagen mögen. Aber er bekam die Worte einfach nicht heraus.
Der Wiedergeborene Drache konnte keinen Vater haben. Ein Vater würde eine Schwäche sein, die man ausnutzen konnte, selbst noch mehr als eine Frau wie Min. Eine Geliebte erwartete man von ihm. Aber der Wiedergeborene Drache musste eine mythische Gestalt sein, eine Kreatur, die beinahe genauso groß wie das Muster selbst war. Er hatte ohnehin schon genug Probleme, die Leute zum Gehorsam zu bewegen. Was würde geschehen, wenn bekannt wurde, dass er seinen Vater in seinem Gefolge hatte? Wenn bekannt wurde, dass sich der Wiedergeborene Drache auf die Kraft eines Schäfers stützte?
Die leise Stimme in seinem Herzen schrie.