»Ich kann mich nicht weigern, Euch zu bestrafen«, sagte Silviana. »Das versteht Ihr doch.«
»Natürlich«, antwortete Egwene. »Aber bitte helft mir auf die Sprünge. Was habt Ihr noch einmal über Shemerin gesagt? Warum konnte ihr Elaida ohne Widerstand die Stola nehmen?«
»Weil Shemerin es akzeptierte«, erwiderte Silviana. »Sie hat sich so verhalten, als hätte sie wirklich die Stola verloren. Sie hat sich nicht gewehrt.«
»Ich werde nicht den gleichen Fehler machen, Silviana. Elaida kann sagen, was sie will. Aber das ändert nicht das, was ich bin, oder was jede von uns ist. Selbst wenn sie versucht, die Drei Eide zu verändern, wird es welche geben, die Widerstand leisten, die an dem festhalten, was richtig ist. Und darum schlagt Ihr, wenn Ihr mich schlagt, den Amyrlin-Sitz. Und das sollte amüsant genug sein, um uns beide lachen zu lassen.«
Die Bestrafung ging weiter, und Egwene umarmte den Schmerz, nahm ihn in sich auf und schätzte ihn als unbedeutend ein, wartete schon ungeduldig darauf, dass die Strafe ihr Ende fand.
Auf sie wartete viel Arbeit.
3
Pfade der Ehre
Aviendha hockte mit ihren Speerschwestern und ein paar Spähern der Blutabkömmlinge auf dem niedrigen grasigen Hügel und betrachtete die Flüchtlinge weiter unten. Ein trauriger Haufen, diese Domani-Feuchtländer, mit schmutzigen Gesichtern, die seit Monaten kein Schweißzelt mehr gesehen hatten und deren abgemagerte Kinder zu hungrig waren, um weinen zu können. Bei den hundert sich abmühenden Menschen zog ein erbärmliches Maultier einen Karren; was sie nicht auf das Gefährt gehäuft hatten, trugen sie. Es gab von beidem nicht viel. Sie schleppten sich nach Nordosten auf einem Weg, den man nun wirklich nicht als Straße bezeichnen mochte. Vielleicht gab es ein Dorf in dieser Richtung. Vielleicht flohen sie auch einfach nur vor der Unsicherheit der Küstenregion.
Abgesehen von ein paar vereinzelten Bäumen war die hügelige Landschaft weit offen. Die Flüchtlinge hatten Aviendha und ihre Gefährten nicht gesehen, und das trotz der Tatsache, dass sie keine hundert Schritte weit entfernt waren. Sie hatte nie begriffen, wie diese Feuchtländer so blind sein konnten. Sahen sie nicht hin und bemerkten die Unregelmäßigkeiten am Horizont? War ihnen denn nicht klar, dass der Weg so nah an einem Hügelkamm vorbei Späher praktisch dazu einlud, sie zu beobachten? Sie hätten den Hügel mit ihren eigenen Kundschaftern sichern sollen, bevor sie sich in seine Nähe wagten.
War ihnen das alles egal? Aviendha fröstelte. Wie konnte es einem egal sein, ob Augen einen beobachteten, Augen, die möglicherweise einem Mann oder einer Tochter mit einem Speer gehörten? Konnten sie es nicht erwarten, aus dem Traum zu erwachen? Aviendha fürchtete den Tod nicht, aber es bestand ein großer Unterschied darin, ob man den Tod umarmte oder ihn sich ersehnte.
Städte, dachte sie, das ist das Problem. Städte waren stinkende, schwärende Orte, wie Geschwüre, die nie heilten. Manche waren besser als andere - Elayne leistete bemerkenswerte Arbeit in Caemlyn -, aber die Besten von ihnen versammelten zu viele Menschen und brachten ihnen bei, wie bequem es doch war, an einem Ort zu bleiben. Wären diese Flüchtlinge ans Reisen gewöhnt und hätten gelernt, die eigenen Füße zu benutzen, statt sich auf Pferde zu verlassen, wie es die Feuchtländer so oft taten, dann wäre es ihnen nicht so schwergefallen, ihre Städte zu verlassen. Bei den Aiel brachte man den Handwerkern bei, sich zu verteidigen, die Kinder konnten tagelang vom Land leben, und selbst Schmiede konnten große Entfernungen schnell zurücklegen. Eine ganze Septime konnte innerhalb einer Stunde auf dem Weg sein und alles Nötige auf dem Rücken tragen.
Feuchtländer waren seltsam, da bestand kein Zweifel. Trotzdem verspürte sie Mitleid für die Flüchtlinge. Das Gefühl überraschte sie. Sie war zwar nicht herzlos, aber ihre Pflicht lag anderswo, bei Rand al'Thor. Es gab für sie keinen Grund, sich wegen einer Gruppe unbekannter Feuchtländer schlecht zu fühlen. Doch die Zeit, die sie mit ihrer Erstschwester Elayne Trakand verbracht hatte, hatte sie gelehrt, dass nicht alle Feuchtländer weich und schwach waren. Nur die meisten. Es lag Ji darin, sich um die zu kümmern, die sich nicht um sich selbst kümmern konnten.
Aviendha betrachtete die Flüchtlinge und versuchte sie mit Elaynes Augen zu sehen, aber sie tat sich noch immer schwer damit, Elaynes Führungsstil zu begreifen. Es war nicht die simple Führung wie bei einer Gruppe von Töchtern auf einem Raubzug - die geschah instinktiv und effizient. Elayne würde bei diesen Flüchtlingen nicht nach Anzeichen von Gefahr oder verborgenen Soldaten Ausschau halten. Sie würde sich für sie verantwortlich fühlen, selbst wenn es nicht ihre eigenen Leute waren. Sie würde eine Möglichkeit finden, ihnen Lebensmittel zu schicken, würde vielleicht von ihren Truppen ein Gebiet sichern lassen, auf dem sie sich niederlassen konnten - und auf diese Weise würde sie ein Stück dieses Landes für sich selbst erwerben.
Früher hätte Aviendha diese Gedanken den Clanhäuptlingen und Dachherrinnen überlassen. Aber sie war keine Tochter mehr, und das hatte sie akzeptiert. Sie lebte jetzt unter einem anderen Dach. Sie schämte sich dafür, dass sie sich dieser Veränderung so lange widersetzt hatte.
Aber das brachte sie in ein Dilemma. Welche Ehre gab es jetzt noch für sie? Keine Tochter mehr, aber auch noch keine Weise Frau. Ihre ganze Identität hatte in diesen Speeren gelegen, ihr Ich war so sicher in ihren Stahl geschmiedet worden wie der Kohlenstoff, der ihm Stärke verlieh. Seit frühester Kindheit war klar gewesen, dass sie Far Dareis Mai sein würde. Tatsächlich hatte sie sich so früh wie möglich den Töchtern angeschlossen. Sie war stolz auf ihr Leben und ihre Speerschwestern gewesen. Sie hätte ihrem Clan und ihrer Septime bis zu dem Tag gedient, an dem sie schließlich dem Speer zum Opfer fiel und ihr letztes Wasser auf den trockenen Boden des Dreifachen Landes blutete.
Das hier war nicht das Dreifache Land, und sie hatte gehört, wie ein paar Algai'd'siswai darüber spekuliert hatten, ob die Aiel jemals dorthin zurückkehren würden. Ihr Leben hatte sich verändert. Aviendha traute Veränderungen nicht. Man konnte sie weder frühzeitig entdecken noch erstechen; sie waren lautloser als ein Späher und tödlicher als ein Attentäter. Nein, sie würde ihnen niemals trauen, aber sie würde sie akzeptieren. Sie würde lernen, wie Elayne zu handeln und wie ein Häuptling zu denken.
Sie würde Ehre in ihrem neuen Leben finden. Irgendwie.
»Sie sind keine Bedrohung«, wisperte Heirn, der mit den Blutabkömmlingen auf der anderen Seite der Töchter kauerte.
Rhuarc beobachtete die Flüchtlinge aufmerksam. »Die Toten wandeln«, sagte der Clanhäuptling der Taardad, »und Männer fallen zufällig Sichtblenders Bösem zum Opfer, ihr Blut wird verdorben wie das Wasser einer schlechten Quelle. Das könnten arme Menschen sein, die vor dem Krieg fliehen. Oder es könnte etwas anderes sein. Wir halten Distanz.«
Aviendha schaute auf die immer kleiner werdende Reihe der Flüchtlinge. Sie glaubte nicht, dass Rhuarc recht hatte; das waren keine Geister oder Ungeheuer. An denen war immer etwas ... falsch. Sie verursachten bei ihr ein Jucken, als würde man sie angreifen.
Trotzdem war Rhuarc weise. Im Dreifachen Land lernte man, vorsichtig zu sein, wo ein winziger Zweig töten konnte. Die Aiel huschten von dem Hügel nach unten zu der Ebene mit dem braunen Gras. Selbst nach vielen Monaten im Feuchtland fand Aviendha die Landschaft seltsam. Hier waren die Bäume hoch und mit langen Ästen versehen. Stießen die Aiel auf Gebiete mit gelbem Frühlingsgras zwischen den abgefallenen Winterblättern, schien es immer so voller Wasser zu sein, dass sie fast damit rechnete, dass die Halme und Blätter unter ihren Füßen platzten. Die Feuchtländer behaupteten, dass dieser Frühling unnatürlich langsam kam, aber er war bereits fruchtbarer als die Heimat der Aiel.