»Nun«, sagte Tarn, »sie sagte, dass ich über deine Jugend sprechen soll, dich an bessere Zeiten erinnere. Sie dachte …«
»Sie manipuliert mich!«, sagte Rand leise und erwiderte Tains Blick. »Und sie manipuliert dich. Hier will mich jeder an seine Fäden knüpfen!«
In ihm brodelte der Zorn. Er versuchte ihn zurückzudrängen, aber das fiel so schwer. Wo war das Eis, die Stille? Verzweifelt suchte Rand nach dem Nichts. Er versuchte sämtliche Gefühle in die Kerzenflamme zu entleeren, genau wie Tarn es ihm vor so langer Zeit beigebracht hatte.
Dort wartete Saidin. Ohne nachzudenken griff Rand danach, und indem er es tat, wurde er von den Gefühlen überwältigt, die er geglaubt hatte losgeworden zu sein. Das Nichts zerbrach, aber Saidin blieb irgendwie und kämpfte mit ihm. Er schrie auf, als ihn die Übelkeit traf, und trotzig schleuderte er ihr seinen Zorn entgegen.
»Rand«, sagte Tarn stirnrunzelnd. »Du solltest es doch besser wissen als …«
»HALT DEN MUND!«, brüllte Rand und warf Tarn mit einem Strom Luft zu Boden. Er rang mit seinem Zorn auf der einen Seite und Saidin auf der anderen. Sie drohten ihn zwischen sich zu zermalmen.
Aus diesem Grund musste er stark sein. Konnten sie das denn nicht begreifen? Wie sollte man denn lachen können, wenn man sich mit solchen Mächten konfrontiert sah?
»Ich bin der Wiedergeborene Drache!«, schleuderte Rand Saidin entgegen, Tarn, Cadsuane, dem Schöpfer selbst. »Ich werde nicht euer Spielzeug sein!« Er richtete den Zugangsschlüssel auf Tarn. Sein Vater lag auf dem Boden des Balkons. »Du kommst von Cadsuane und behauptest, mir deine Zuneigung zu zeigen. Aber du willst mir nur einen weiteren ihrer Fäden um den Hals knüpfen! Kann ich nicht von euch allen befreit sein?«
Er hatte die Kontrolle verloren. Aber das war ihm egal. Sie wollten, dass er etwas fühlte. Also würde er etwas fühlen! Sie wollten, dass er lachte? Er würde lachen, wenn sie brannten!
Er schrie sie alle an und webte Stränge aus Luft und Feuer. In seinem Kopf heulte Lews Therin, Saidin versuchte sie beide zu vernichten, und die leise Stimme in seinem Herzen verschwand.
Ein winziger Lichtpunkt trat vor Rand in Erscheinung, wuchs aus dem Mittelpunkt des Zugangsschlüssels. Die Gewebe von Baalsfeuer wirbelten vor ihm, und der Zugangsschlüssel wurde immer heller, als er immer mehr Macht hineinzog.
In diesem Lichtschein sah Rand das Gesicht seines Vaters, der zu ihm aufschaute. Voller Angst. Was tue ich hier?
Rand fing am ganzen Körper an zu zittern, das Baalsfeuer löste sich auf, bevor er Gelegenheit hatte, es zu benutzen. Entsetzt stolperte er zurück.
Was TUE ich hier?, dachte Rand erneut.
Nicht mehr, als ich auch getan habe, flüsterte Lews Therin.
Tarn starrte ihn immer noch an, das Gesicht verborgen vom Schatten der Nacht.
Beim Licht, dachte Rand voller Entsetzen, Unglaube und Zorn. Ich tue es wieder. Ich bin ein Ungeheuer.
Noch immer zaghaft Saidin haltend, webte Rand ein Wegetor nach Ebou Dar, duckte sich hindurch und floh vor dem Entsetzen in Tams Augen.
48
Blättern im Kommentar
Min saß in Cadsuanes kleinem Zimmer und wartete zusammen mit den anderen auf das Ergebnis von Rands Begegnung mit seinem Vater. Im Kamin brannte ein kleines Feuer, und Lampen in jeder Zimmerecke versorgten die Frauen mit Licht, die verschiedenen Aktivitäten nachgingen, um sich abzulenken. Sticken, Löcher stopfen, stricken.
Min bedauerte nicht länger ihre Entscheidung, ein Bündnis mit Cadsuane einzugehen; das hatte sie bereits hinter sich gebracht. Das Bedauern hatte sich schnell eingestellt, schon während der ersten Tage, in denen Cadsuane sie in ihrer Nähe gehalten und über jede Sicht ausgefragt hatte, die sie je von Rand gehabt hatte. Die Frau war so akribisch wie eine Braune und schrieb jede Vision und jede Antwort nieder. Es war, als befände sie sich wieder in der Weißen Burg!
Min vermochte nicht genau zu sagen, warum Nynaeves Einknicken vor Cadsuane der Frau das Recht gegeben hatte, sie zu verhören, aber so schien sie es zu interpretieren. Rechnete man dann noch das Unbehagen hinzu, das Min in letzter Zeit in Rands Gegenwart verspürte, und ihr eigener Wunsch herauszufinden, was Cadsuane und die Weisen Frauen eigentlich planten, schien sie praktisch ihre ganze Zeit mit der Frau zu verbringen.
Ja, das Bedauern war gekommen und verflogen. Es war durch Resignation ersetzt worden, in die sich ein Hauch Ungeduld mischte. Cadsuane wusste viel über das Material, das Min in ihren Büchern studierte, aber die Frau verteilte ihr Wissen wie Wolkenbeerenmarmelade, eine kleine Belohnung für braves Benehmen, der stets die Andeutung anhaftete, dass es davon noch mehr geben würde. Das hielt Min davon ab, die Flucht zu ergreifen.
Sie musste die Antworten finden. Rand brauchte sie.
Mit diesem Gedanken im Kopf lehnte sich Min auf ihrer gepolsterten Bank zurück und schlug ihr derzeitiges Buch auf, ein Werk von Sajius mit dem schlichten Titel Ein Kommentar über den Drachen. Vor allem eine Zeile darin ließ sie nicht mehr los, ein Satz, den die meisten Kommentatoren ignoriert hatten. Er wird eine Klinge aus Licht in der Hand halten, und die drei sollen eins sein.
Die Kommentatoren waren der Ansicht gewesen, dass dieser Satz viel zu vage war, wenn man ihn mit anderen Passagen verglich - beispielsweise dass Rand den Stein eroberte oder sein Blut auf den Felsen des Shayol Ghul vergossen werden würde.
Sie bemühte sich, nicht über Letzteres nachzudenken. Hier kam es darauf an, dass viele Prophezeiungen durchaus Sinn machten, wenn man darüber nachdachte. Sogar die Zeilen, dass Rand von den Drachen und den Reihern markiert werden würde, ergaben Sinn, wenn man es im Nachhinein betrachtete.
Aber was war mit dieser Zeile? Eine Klinge aus Licht, damit war mit Sicherheit Callandor gemeint. Aber was war mit »drei sollen eins sein«? Ein paar Gelehrte behaupteten, bei den »dreien« handele es sich um die drei großen Städte-Tear, Illian und Caemlyn. War der Gelehrte zufällig ein Cairhiener, waren es eben Tear, Illian und Cairhien. Das Problem bestand nur darin, dass Rand viel mehr als nur drei Städte vereint hatte. Er hatte auch Bandar Eban erobert, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass er die Grenzländer unter sein Banner zwingen musste.
Aber er war der Herrscher - jedenfalls so gut wie - von drei Königreichen. Andor hatte er aufgegeben, aber Cairhien, Illian und Tear standen direkt unter seiner Kontrolle, selbst wenn er persönlich nur eine der Kronen trug. Vielleicht bedeutete diese Passage ja genau das, was die Gelehrten meinten, und sie jagte Gespenstern hinterher.
Waren ihre Studien genauso unnütz wie der Schutz, den sie Rand zu geben geglaubt hatte? Min, sagte sie sich, Selbstmitleid nutzt dir nicht das Geringste. Sie konnte nur studieren, nachdenken und hoffen.
»Das ist falsch«, hörte sie sich laut sagen.
Beldeines verächtliches Schnauben kam von der anderen Seite des Zimmers. Min schaute stirnrunzelnd auf.
Die Frauen, die Rand den Treueid geschworen hatten - Erian, Nesune, Sarene und Beldeine - hatten entdecken müssen, dass sie in seiner Gegenwart nicht mehr so willkommen waren wie früher, seit er den Aes Sedai immer weniger vertraute. Die einzige, die er immer empfing, war Nynaeve. Darum war es nicht seltsam, dass die anderen ihren Weg in Cadsuanes »Lager« gefunden hatten.
Und was war mit Mins Beziehung zu Rand? Sie war ihm immer noch willkommen; das hatte sich nicht verändert. Aber etwas stimmte nicht, etwas war falsch. Er baute Mauern auf, wenn sie in seiner Nähe war - nicht um sie fernzuhalten, sondern um den wahren Rand einzusperren. Als hätte er Angst, was sein wahres Ich denjenigen, die er liebte, antun würde oder konnte …