Die Tür wurde ungestüm aufgestoßen, was Merise zusammenzucken ließ. Nynaeve machte einen Satz zurück - die Tür hätte sie beinahe getroffen.
Auf der Schwelle stand ein sehr wütender Tarn al’Thor. Er starrte Cadsuane an. »Was habt Ihr mit ihm gemacht?«, verlangte er zu wissen.
Cadsuane senkte das Buch. »Ich habe nichts mit dem Jungen gemacht, außer ihn zu mehr Höflichkeit anzuhalten. Etwas, das andere Mitglieder dieser Familie anscheinend ebenfalls lernen sollten.«
»Hütet Eure Zunge, Aes Sedai«, knurrte Tarn. »Habt Ihr ihn gesehen? Bei seinem Eintreten schien sich der ganze Raum zu verfinstern. Und dieses Gesicht - ich habe schon mehr Gefühle in den Augen einer Leiche gesehen! Was ist mit meinem Sohn passiert?«
»Ich nehme also an«, sagte Cadsuane, »dass das Wiedersehen nicht wie erhofft verlaufen ist?«
Tarn holte tief Luft, und plötzlich schien die ganze Wut aus ihm zu entweichen. Er war noch immer energisch und schaute unzufrieden drein, aber der Zorn war verschwunden. Min hatte schon erlebt, dass sich Rand schnell wieder unter Kontrolle brachte. Bevor die Dinge in Bandar Eban so schiefgegangen waren.
»Er wollte mich umbringen«, sagte Tarn tonlos. »Mein eigener Sohn. Einst war er ein so sanfter und treuer Junge, wie sich ein Vater nur wünschen konnte. Heute Abend lenkte er die Eine Macht und wandte sie gegen mich.«
Min hob eine Hand zum Mund und verspürte Panik. Diese Worte brachten Erinnerungen zurück, wie Rand sich über sie beugte und versuchte, sie umzubringen.
Aber das war nicht er gewesen! Es war Semirhage gewesen. Oder nicht? Oh, Rand, dachte sie und begriff nun den Schmerz, den sie durch den Bund gespürt hatte. Was hast du getan?
»Interessant«, sagte Cadsuane kalt. »Und habt Ihr die Worte benutzt, die ich für Euch vorbereitet habe?«
»Ich habe damit angefangen«, erwiderte Tarn, »aber dann wurde mir klar, dass es nicht funktioniert. Er wollte sich mir nicht öffnen, und warum auch. Ein Mann benutzt bei seinem eigenen Sohn die Vorlage einer Aes Sedai! Ich weiß nicht, was Ihr ihm angetan habt, Frau, aber ich erkenne Hass, wenn er mir begegnet. Ihr habt eine Menge zu erklären …«
Tarn unterbrach sich, als ihn unsichtbare Hände in die Luft hoben. »Ihr erinnert Euch doch sicherlich daran, was ich über Höflichkeit sagte, Junge?«, fragte Cadsuane.
»Cadsuane!«, sagte Nynaeve. »Es ist nicht nötig, dass Ihr …«
»Schon gut, Dorfseherin«, sagte Tarn. Er sah Cadsuane an. Min hatte schon miterlebt, wie sie andere so behandelte, Rand eingeschlossen. Er war immer frustriert gewesen, und die anderen, bei denen sie das getan hatte, neigten zum Brüllen.
Tarn starrte ihr in die Augen. »Ich kenne Männer, deren Antwort auf jede Herausforderung immer ihre Fäuste sind. Ich habe die Aes Sedai noch nie gemocht; ich war froh, sie losgeworden zu sein, als ich auf meinen Hof zurückkehrte. Ein Rüpel ist ein Rüpel, ob er nun die Kraft seiner Arme benutzt oder etwas anderes.«
Cadsuane schnaubte, aber die Worte hatten sie geärgert, denn sie setzte Tarn wieder ab.
»Vielleicht können wir jetzt zum wichtigen Teil zurückkehren«, sagte Nynaeve, als hätte sie die Unterhaltung entschärft. »Tarn al’Thor, ich hätte erwartet, dass ausgerechnet Ihr von allen Leuten das besser regelt. Haben wir Euch nicht gewarnt, dass Rand unberechenbarer geworden ist?«
»Unberechenbar?«, sagte Tarn. »Nynaeve, dieser Junge ist so gut wie dem Wahnsinn verfallen. Was ist mit ihm passiert? Ich kann ja verstehen, was eine Schlacht mit einem Mann anrichten kann, aber …«
»Das ist irrelevant«, sagte Cadsuane. »Ihr begreift, Kind, dass das möglicherweise unsere letzte Gelegenheit war, Euren Sohn zu retten?«
»Hättet Ihr mir erklärt, was er von Euch hält, wäre das vielleicht anders verlaufen«, sagte Tarn. »Soll man mich doch zu Asche verbrennen! Das habe ich davon, dass ich auf Aes Sedai höre.«
»Das habt Ihr davon, weil Ihr ein Wollkopf seid und ignoriert, was man Euch sagt!«, warf Nynaeve ein.
»Das haben wir alle davon«, sagte Min, »weil wir annehmen, wir könnten ihn dazu zwingen, das zu tun, was wir wollen.«
Stille kehrte in den Raum ein.
Und plötzlich wurde sich Min durch ihren Bund bewusst, dass sie Rand fühlen konnte. In der Ferne, weit im Westen. »Er ist weg«, flüsterte sie.
»Ja.« Tarn seufzte. »Er öffnete eines dieser Wegetore direkt auf dem Balkon. Ließ mich am Leben, obwohl ich, als ich ihm in die Augen sah, geschworen hätte, dass er mich umbringen will. Diesen Ausdruck habe ich schon in den Augen anderer Männer gesehen, und einer von uns beiden endete dann immer blutend auf dem Boden.«
»Was ist dann geschehen?«, fragte Nynaeve.
»Plötzlich schien er von etwas … abgelenkt zu sein«, sagte Tarn. » Er nahm diese kleine Statue und sprang durch das Tor.«
Cadsuane hob eine Braue. »Und habt Ihr zufällig gesehen, wo ihn das Tor hingebracht hat?«
Nach Westen, dachte Min. Weit nach Westen.
»Ich bin mir nicht sicher«, gab Tarn zu. »Es war dunkel, aber ich glaubte …«
» Was?«, hakte Nynaeve nach.
»Ebou Dar«, sagte Min und überraschte sie alle. »Er ist losgezogen, um die Seanchaner zu vernichten. Genau wie er es den Töchtern gesagt hat.«
»Davon weiß ich nichts«, sagte Tarn. »Aber es sah nach Ebou Dar aus.«
»Das Licht bewahre uns«, flüsterte Corele.
49
Der Mann in der Menge
Rand ging mit gesenktem Kopf und hatte den Armstumpf in die Manteltasche geschoben; der Zugangsschlüssel war sicher in ein weißes Tuch gewickelt und an seiner Seite am Gürtel befestigt. Niemand schenkte ihm Aufmerksamkeit. Er war nur ein Mann in der Menge, einer von vielen, die durch die Straßen von Ebou Dar gingen. Nichts Besonderes, und das trotz der Tatsache, dass er größer als die meisten war. Er hatte rötliches Haar, was vielleicht auf einen Anteil von Aielblut hindeutete. Aber kürzlich waren viele seltsame Leute in die Stadt geflohen, um den Schutz der Seanchaner zu suchen. Was bedeutete da schon einer mehr?
Solange jemand die Macht nicht lenken konnte, konnte er hier Stabilität finden. Sicherheit.
Das störte ihn. Sie waren seine Feinde. Sie waren Eroberer. Er vertrat die Ansicht, dass ihre Länder nicht friedlich hätten sein dürfen. Sie hätten schrecklich sein müssen, voller Leid wegen ihrer tyrannischen Herrschaft. Aber so war das überhaupt nicht.
Es sei denn, man konnte die Macht lenken. Was die Seanchaner dieser Gruppe von Menschen antaten, war einfach nur entsetzlich. Unter dieser glücklichen Oberfläche war bei weitem nicht alles in Ordnung. Und doch war es schockierend zu sehen, wie gut sie die anderen behandelten.
Draußen vor der Stadt lagerten große Gruppen Kesselflicker. Ihre Wagen waren seit Wochen nicht bewegt worden, und es hatte den Anschein, als würden sie Dörfer gründen. Rand hatte einige von ihnen davon sprechen hören, sich niederzulassen.
Andere hatten sich natürlich dagegen ausgesprochen. Sie waren die Kesselflicker, das fahrende Volk. Wie wollten sie das Lied finden, wenn sie nicht danach suchten? Das war genauso sehr ein Teil von ihnen wie der Weg des Blattes.
Letzte Nacht hatte Rand ihnen am Lagerfeuer zugehört. Sie hatten ihn willkommen geheißen, ihm zu essen gegeben und nicht ein einziges Mal gefragt, wer er eigentlich war. Er hatte den Drachen auf seiner Hand verborgen und den Zugangsschlüssel sorgfältig in der Manteltasche versteckt, hatte ins Feuer gesehen, bis es niederbrannte.
Er war noch nie in Ebou Dar gewesen; er hatte nur die Höhen im Norden besucht, wo er die Seanchaner mit Callandor bekämpfte. Das war ein Ort der Niederlage gewesen. Jetzt war er nach Altara zurückgekehrt. Aber wozu?
Als sich am Morgen die Stadttore geöffnet hatten, war er mit den anderen, die während der Nacht eingetroffen waren, eingetreten. Die Kesselflicker hatten sie alle aufgenommen; sie erhielten von den Seanchanern Lebensmittelrationen, um späte Reisende versorgen zu können. Das war nur eine ihrer vielen Tätigkeiten. Sie reparierten Töpfe, nähten Uniformen und erledigten alle möglichen anderen Arbeiten. Dafür erhielten sie zum ersten Mal in ihrer langen Geschichte den Schutz der Herrscher.