Rand hatte genug Zeit mit den Aiel verbracht, um etwas von ihrer Verachtung für die Kesselflicker zu übernehmen. Aber diese Verachtung rang mit seinem Wissen, dass die Tuatha’an in vielerlei Hinsicht der echten, traditionelleren Lebensweise der Aiel folgten. Rand konnte sich daran erinnern, wie es war, so wie sie zu leben. In den Visionen von Rhuidean war er dem Weg des Blattes gefolgt. Er hatte auch das Zeitalter der Legenden gesehen. Für ein paar kurze Augenblicke hatte er diese Leben gelebt, die Leben von anderen.
Er ging über die dicht bevölkerten Straßen der schwülen Stadt und fühlte sich noch immer irgendwie benommen. Vergangene Nacht hatte er seinen teuren schwarzen Mantel bei einem Kesselflicker gegen einen schlichten braunen Umhang eingetauscht, der an vielen Stellen geflickt und dessen Saum ausgefranst war. Keinen Kesselflickerumhang, einfach einen, den ein Kesselflicker für einen Mann genäht hatte, der ihn nie abgeholt hatte. Damit würde er weniger auffallen, selbst wenn er nun den Zugangsschlüssel an den Gürtel binden musste, statt ihn in seiner tiefen Tasche zu transportieren. Der Kesselflicker gab ihm auch einen Wanderstab, den Rand leicht gebückt beim Gehen benutzte. Größe würde ihn möglicherweise hervorheben. Bei diesen Menschen wollte er unsichtbar sein.
Um ein Haar hätte er seinen Vater getötet. Dazu hatte ihn weder Semirhage noch Lews Therins Einfluss gezwungen. Keine Entschuldigungen. Keine Diskussionen. Er, Rand al’Thor, hatte versucht, seinen eigenen Vater zu töten. Er hatte sich mit der Macht gefüllt, die Gewebe hergestellt und sie beinahe benutzt.
Rands Zorn war verschwunden. Abscheu hatte ihn ersetzt. Abhärten hatte er sich wollen. Er hatte hart sein müssen. Aber die Härte hatte ihn genau dorthin gebracht. Lews Therin hatte den Wahnsinn für seine Gräueltaten verantwortlich machen können. Rand hatte nichts dergleichen, kein Versteck, an dem er sich vor sich selbst verbergen konnte. Ebou Dar. Es war eine geschäftige Stadt, die aus allen Nähten platzte und von ihrem großen Fluss in der Mitte geteilt wurde. Rand war durch die Westseite gegangen, über Plätze mit großen Statuen und Straßen, die von Reihen weißer Häuser mit vielen Stockwerken gesäumt wurden. Oft kam er an Männern vorbei, die mit Fäusten oder Messern kämpften, und niemand machte sich die Mühe, sie voneinander zu trennen. Selbst die Frauen trugen Messer um den Hals, die in juwelengeschmückten Scheiden steckten, über tief ausgeschnittenen Kleidern mit bunten Unterröcken.
Er ignorierte sie alle. Stattdessen dachte er an die Kesselflicker. Die Kesselflicker waren hier sicher, aber in seinem Reich war nicht einmal sein eigener Vater sicher. Selbst seine Freunde fürchteten ihn; er hatte es Nynaeve von den Augen ablesen können.
Die Menschen hier hatten keine Angst. Seanchanische Offiziere mit diesen insektenartigen Helmen bewegten sich durch die Menge. Die Leute machten ihnen Platz, aber es geschah aus Respekt. Rand belauschte die Bürger; sie waren froh über die Stabilität. Sie priesen die Seanchaner sogar dafür, sie erobert zu haben!
Rand überquerte eine kleine Brücke über einen Kanal. Kleine Boote trieben über den Wasserweg, Bootsführer grüßten einander. Die Stadt schien völlig planlos gewachsen zu sein; wo Rand Häuser erwartete, fand er Geschäfte, aber statt dass sich ähnliche Läden zusammengruppierten, wie es in den meisten Städten üblich war, waren sie hier völlig zufällig verteilt. Auf der anderen Seite der Brücke passierte er ein großes weißes Haus, an das sich eine Schenke anschloss.
Ein Mann in einer bunten Seidenweste rempelte Rand an und setzte zu einer langwierigen, übermäßig höflichen Entschuldigung an. Rand eilte weiter, bevor der Mann noch ein Duell wollte.
Keineswegs erweckten die Menschen den Eindruck eines unterdrückten Volkes. Da war keine unterschwellige Feindseligkeit. Die Seanchaner hatten Ebou Dar viel besser im Griff, als Rand Bandar Eban unter Kontrolle gehabt hatte, und die Menschen hier waren glücklich - blühten sogar auf. Natürlich war Altara als Königreich nie besonders stark gewesen. Rand wusste von seinen Tutoren, dass sich die Autorität der Krone nie weit über die Stadtgrenzen hinaus erstreckt hatte. Das war bei den anderen von den Seanchanern eroberten Orten nicht viel anders gewesen. Tarabon, Amadicia, die Ebene von Almoth. Einige waren stabiler als Altara, andere weniger, aber sie alle hießen die Sicherheit willkommen.
Rand blieb stehen und lehnte sich an ein weiteres weißes Gebäude, in dem ein Hufschmied zugange war. Er hob den Stumpf an die Schläfe, versuchte einen klaren Kopf zu bekommen.
Er wollte sich nicht dem stellen, was er beinahe im Stein getan hatte. Er wollte sich nicht dem stellen, was er getan hatte:
Luft zu weben und Tarn zu Boden zu schleudern, ihn wie ein Verrückter tobend zu bedrohen.
Rand konnte sich nicht darauf konzentrieren. Er war nicht nach Ebou Dar gekommen, um sich staunend wie ein Junge vom Land umzuschauen. Er war gekommen, um seine Feinde zu vernichten! Sie hatten ihm getrotzt; sie mussten ausgemerzt werden. Zum Wohl aller Nationen.
Aber wenn er so viel Macht durch den Zugangsschlüssel zog, welchen Schaden würde er anrichten? Wie viele Leben würde er beenden? Und würde er dabei kein Leuchtfeuer für die Verlorenen entzünden, so wie er es bei der Reinigung von Saidin getan hatte?
Sollen sie doch kommen. Er hob den Kopf. Er konnte sie besiegen.
Die Zeit zum Angriff war gekommen. Die Zeit, die Seanchaner vom Land zu brennen. Er stellte den Stab ab und nahm den Schlüssel vom Gürtel, aber er konnte sich nicht dazu überwinden, ihn aus dem Leinentuch auszuwickeln. Er starrte ihn eine Weile an, dann ging er weiter und ließ den Stab einfach stehen. Es fühlte sich so seltsam an, nur ein weiterer Fremder zu sein. Der Wiedergeborene Drache bewegte sich mitten unter seinem Volk, und es erkannte ihn nicht. Für sie war Rand al’Thor weit weg. Die Letzte Schlacht kam erst an zweiter Stelle vor der Sorge, ob sie ihre Hühner rechtzeitig zum Markt bekamen oder ob sich ihr Sohn von dem Husten erholte oder ob sie sich die neue Seidenweste leisten konnten, die sie unbedingt haben wollten.
Sie würden Rand nicht erkennen, bis er sie vernichtete.
Es wird eine Gnade sein, flüsterte Lews Therin. Der Tod ist immer eine Gnade. Der Verrückte klang nicht ganz so verrückt wie sonst. Tatsächlich hatte seine Stimme angefangen, eine erschreckende Ähnlichkeit mit Rands eigener Stimme aufzuweisen.
Auf der nächsten Brücke blieb Rand stehen und schaute zu dem gewaltigen Palast der Stadt mit seinen weißen Mauern hinüber, die Heimat des seanchanischen Hofes. Vier Stockwerke hoch hatte er goldene Ringe an der Basis seiner vier Kuppeln und noch mehr Gold an den Spitzen der vielen Türme. Dort würde man die Tochter der Neun Monde finden können. Er würde diesen Mauern eine Reinheit geben, wie sie sie noch nie gekannt hatten. Perfektion. In gewisser Weise würde er das Gebäude in dem Moment, bevor es sich in nichts auflöste, komplettieren.
Er wickelte den Zugangsschlüssel aus, nur ein weiterer Fremder auf einer schlammverschmierten Brücke. Nach der Vernichtung des Palastes würde er schnell handeln müssen. Er würde die Schiffe im Hafen mit vielen Blitzen aus Baalsfeuer zerstören, dann würde er etwas weniger Aufwendiges dazu benutzen, um Feuer auf die Stadt regnen zu lassen, um dort Panik ausbrechen zu lassen. Das Chaos würde die Reaktion seiner Feinde verzögern. Danach würde er zu den Garnisonen am Stadttor Reisen und sie zerstören. Er hatte eine vage Erinnerung an Späherberichte über Nachschublager im Norden, die gut mit Soldaten und Proviant ausgerüstet waren. Die würde er als Nächstes zerstören.
Von dort würde er sich weiter nach Amador begeben, dann nach Tanchico und zu anderen Orten. Er würde schnell Reisen, niemals lange genug an einem Ort bleiben, damit ihn die Verlorenen einholen konnten. Ein flackerndes Licht des Todes, das wie ein brennender Holzscheit hier und dort zu neuem Leben aufflammte. Viele würden sterben, aber der größte Teil davon würden Seanchaner sein. Die Eroberer.