Davor hatte man ihn noch nie in eine Kiste gesperrt.
Er hatte verstanden, was man von ihm verlangte, und er hatte sich auf eine Weise verändert, die er für erforderlich gehalten hatte. Diese Veränderungen sollten verhindern, dass er sich von alldem überwältigen ließ. Er musste sterben, um ihm völlig unbekannte Menschen zu beschützen? Er war dazu auserwählt, die Menschheit zu retten? Er war dazu auserwählt, die Königreiche der Welt zu zwingen, sich hinter ihm zu vereinigen, und sollte jene vernichten, die ihm nicht folgen wollten? Er war auserkoren, Tausenden, die in seinem Namen kämpften, den Tod zu bringen und diese Seelen dann als Last auf seinen Schultern zu tragen? Welcher Mann konnte solche Dinge vollbringen, ohne dabei den Verstand zu verlieren? Rand hatte nur eine Möglichkeit gesehen; er musste seine Gefühle bezwingen und sich in Cuendillar verwandeln.
Aber er war gescheitert. Es war ihm nicht gelungen, seine Gefühle auszumerzen. Die Stimme in seinem Inneren war so winzig gewesen, aber sie hatte ihn ununterbrochen gestochen, wie eine Nadel, die ein winziges Loch in sein Herz stach. Aber selbst das kleinste Loch ließ Blut ausströmen.
Diese Löcher würden ihn ausbluten.
Die leise Stimme war nun verschwunden. Sie war verschwunden, als er Tarn zu Boden geschleudert und ihn beinahe getötet hatte. Konnte er es wagen, ohne diese Stimme weiterzumachen? Wenn sie der letzte Rest des alten Rand gewesen war - des Rand, der zu wissen geglaubt hatte, was richtig und was falsch war -, was bedeutete ihr Schweigen dann?
Rand nahm den Zugangsschlüssel und stand auf. Es war Mittag, auch wenn die Sonne noch immer hinter den Wolken verborgen lag. In der Tiefe konnte er Hügel und Wälder sehen, Seen und Dörfer.
»Und was, wenn ich nicht will, dass das Muster fortgesetzt wird?«, brüllte er. Er trat vor, direkt an den Abgrund, hielt den Zugangsschlüssel an die Brust gedrückt.
»Wir leben das gleiche Leben!«, hielt er der Welt entgegen. »Immer und immer wieder. Wir machen die gleichen Fehler. Königreiche tun die gleichen dummen Dinge. Herrscher enttäuschen ihr Volk immer wieder. Die Menschen fahren darin fort, einander zu verletzen und zu hassen und zu sterben und zu töten!«
Der Wind peitschte ihn und ließ seinen braunen Umhang und die kostbaren tairenischen Hosen flattern. Aber seine Worte trugen weit und halten über die zersplitterten Felsen des Drachenberges. Es war kalt, die Luft frisch. Sein Gewebe hielt ihn warm genug, damit er überlebte, aber es hielt nicht die Kälte ab. Er hätte es auch nicht anders gewollt.
»Was, wenn ich der Meinung bin, dass das alles völlig sinnlos ist?«, verlangte er mit der lauten Stimme eines Königs zu wissen. »Was, wenn ich nicht will, dass es sich weiterdreht? Wir leben unsere Leben, indem wir das Blut anderer vergießen! Und diese anderen geraten in Vergessenheit! Welchen Sinn hat es, wenn alles, was wir wissen, irgendwann dahinschwindet? Große Taten oder große Tragödien, nichts davon hat auch nur die geringste Bedeutung! Sie werden zu Legenden, dann geraten diese Legenden in Vergessenheit, und dann fängt wieder alles von vorn an!«
Der Zugangsschlüssel in seiner Hand fing an zu glühen. Die Wolken in der Höhe schienen dunkler zu werden.
Rands Zorn pulsierte in einem Rhythmus mit seinem Herzen und verlangte freigelassen zu werden.
»Was, wenn er recht hat?«, brüllte Rand. »Wenn es besser wäre, dass das alles hier endet? Wenn das Licht die ganze Zeit eine Lüge war und das alles hier nur eine Strafe ist? Wir werden wiedergeboren, werden alt und hinfällig und sterben, auf ewig in diesem Kreislauf gefangen. Wir werden für alle Ewigkeit gefoltert!«
Macht flutete in Rand wie rauschende Wellen, die einen neuen Ozean füllen sollten. Er erwachte zum Leben, ergötzte sich an Saidin, und es war ihm egal, dass dieses Schauspiel ein strahlendes Spektakel für alle Männer sein musste, die die Macht lenken konnten. Die Macht vermittelte ihm das Gefühl, hell zu strahlen, er kam sich vor wie eine Sonne für die Welt unter ihm.
»NICHTS DAVON IST VON BEDEUTUNG! «
Er schloss die Augen, zog immer mehr Macht in sich hinein, fühlte sich, wie er sich nur zweimal zuvor gefühlt hatte. Einmal, als er Saidin gereinigt hatte. Einmal, als er diesen Berg erschaffen hatte.
Dann nahm er noch mehr in sich auf.
Er wusste, dass ihn so viel Macht vernichten konnte. Es interessierte ihn nicht mehr. Die Wut, die sich viele Jahre lang in ihm aufgestaut hatte, wurde endlich entfesselt. Er breitete die Arme aus, den Zugangsschlüssel in der Hand. Lews Therin hatte das Richtige getan, als er sich umbrachte und den Drachenberg erschuf. Nur war er nicht weit genug gegangen.
Rand konnte sich an diesen Tag erinnern. Der Qualm, das Grollen, der scharfe Schmerz der Heilung, die ihn in einem zerstörten Palast zurück ins Bewusstsein holte. Aber diese Schmerzen waren verblasst angesichts der Qual der Erkenntnis. Die Qual, die wunderschönen Wände vernarbt und zerbrochen zu sehen. Die Leichenstapel sehen zu müssen, die wie weggeworfene Lumpen auf dem Boden lagen.
llyena ein kurzes Stück entfernt zu sehen, deren goldenes Haar auf dem Boden um sie herum ausgebreitet lag.
Er konnte fühlen, wie der Palast durch das Schluchzen der Erde selbst um ihn herum erbebte. Oder war das der Drachenberg, der durch die gewaltige Macht pulsierte, die er in sich hineingezogen hatte?
Die Luft roch nach Blut und Asche und Tod und Schmerz. Oder war das bloß der Geruch einer sterbenden Welt, die sich vor ihm ausbreitete?
Die Winde peitschten ihn nun immer heftiger, die gewaltigen Wolken in der Höhe wanden sich wie uralte Leviathane, die in der undurchdringlichen Dunkelheit der Tiefe aneinander vorbeischwammen.
Lews Therin hatte einen Fehler gemacht. Er war gestorben, aber er hatte die Welt verwundet am Leben gelassen, damit sie weiterhumpeln konnte. Er hatte zugelassen, dass sich das Rad der Zeit weiterbewegte, weiterdrehte, vermoderte und ihn wieder zurückbrachte. Er konnte ihm nicht entkommen. Nicht, ohne alles zu beenden.
»Warum?«, fragte Rand flüsternd den fauchenden Wind. Die Macht, die durch den Zugangsschlüssel in ihn hineinströmte, war größer als die, die er bei der Reinigung Saidins gehalten hatte. Vielleicht größer, als je ein Mensch gehalten hatte. Groß genug, um das Muster selbst aufzulösen und den endgültigen Frieden zu bringen.
»Warum müssen wir das alles noch einmal machen?«, flüsterte er. »Ich bin schon einmal gescheitert. Sie ist durch meine Hand gestorben. Warum musstest du mich wieder ins Leben zurückholen?«
Blitze zuckten über das Firmament, Donner erschütterte ihn. Eingehüllt in einen eisigen Sturmwind, schloss Rand die Augen und beugte sich über die Felskante, die Tausende Fuß in die Tiefe führte. Durch die geschlossenen Lider konnte er das grelle Licht des Zugangsschlüssels spüren. Die Macht, die er in seinem Inneren hielt, ließ dieses Licht lächerlich klein erscheinen. Er war die Sonne. Er war Feuer. Er war Leben und Tod.
Warum? Warum mussten sie das immer wieder durchmachen? Aber die Welt konnte ihm keine Antwort auf diese Frage geben.
Rand streckte die Arme in die Höhe, ein Kanal für Macht und Energie. Eine Inkarnation des Todes und der Zerstörung. Er würde es beenden. Er würde allem ein Ende bereiten und die Menschen endlich von ihren Leiden erlösen.
Ihnen ersparen, immer wieder aufs Neue leben zu müssen. Warum? Warum hatte der Schöpfer ihnen das nur angetan? Warum?
Warum werden wir wiedergeboren?, fragte Lews Therin da plötzlich. Seine Stimme war klar und eigenständig.
Ja, erwiderte Rand flehend. Verrate es mir. Warum?