Vielleichtsagte Lews Therin schockierend klar und ohne eine Spur von Irrsinn. Er sprach leise, andächtig. Warum? Könnte es denn sein … Vielleicht, damit wir eine zweite Chance bekommen.
Rand erstarrte. Der Wind prallte gegen ihn, konnte ihn aber nicht bewegen. Die Macht in seinem Inneren zögerte wie die Axt des Henkers, die zitternd über dem Hals des Verbrechers verharrte. Du kannst dir vielleicht nicht aussuchen, welche Pflichten du aufgetragen bekommst, sagte Tams Stimme als Erinnerung in seinem Verstand. Aber du kannst entscheiden, warum du sie erfüllst.
Warum, Rand? Warum ziehst du in die Schlacht? Welchen Sinn soll das haben?
Warum?
Alles war still. Trotz des Sturms, des tosenden Windes, des ohrenbetäubenden Donners. Alles war still.
Warum?, dachte Rand ergriffen. Weil wir in jedem neuen Leben auch wieder neu lieben.
Das war die Antwort. Alles schlug wie eine Woge über ihm zusammen, gelebte Leben, begangene Fehler, Liebe, die alles veränderte. Vor seinem geistigen Auge sah er die ganze Welt, die von dem Licht in seiner Hand erhellt wurde. Er erinnerte sich an Leben, an Hunderte von ihnen, Tausende, eine Zahl, die sich in die Unendlichkeit erstreckte. Er erinnerte sich an Liebe und Frieden, an Freude und Hoffnung.
Und in diesem Augenblick kam ihm ein erstaunlicher Gedanke. Wenn ich wieder lebe, dann könnte sie das doch auch!
Darum kämpfte er. Darum lebte er wieder, und das war die Antwort auf Tams Frage. Ich kämpfe, weil ich das letzte Mal gescheitert bin. Ich kämpfe, weil ich das in Ordnung bringen will, was ich falsch gemacht habe.
Dieses Mal will ich es richtig machen.
Die Macht in ihm erreichte ein Crescendo, und er richtete sie gegen sich selbst, trieb sie durch den Zugangsschlüssel. Das Ter’angreal war mit einer viel größeren Macht verbunden, einem massiven Sa’angreal im Süden, das man gebaut hatte, um den Dunklen König aufzuhalten. Zu mächtig, wie einige behauptet hatten. Zu mächtig, um es jemals zu benutzen. Zu furchteinflößend.
Rand lenkte seine eigene Macht dagegen, zermalmte die Kugel in der Ferne, zersplitterte sie wie mit der Hand eines Riesen.
Der Choedan Kai explodierte. Die Macht erlosch. Der Sturm endete.
Und Rand öffnete zum ersten Mal seit langer Zeit die Augen. Er wusste, irgendwie wusste er, dass er nie wieder Lews Therins Stimme in seinem Kopf hören würde. Denn sie waren keine verschiedenen Männer, und sie waren es auch nie gewesen.
Er betrachtete die Welt zu seinen Füßen. Die Wolken am Himmel hatten sich endlich voneinander gelöst, wenn auch nur genau über ihm. Das Zwielicht verschwand und gestattete ihm die Sonne zu sehen, die genau über ihm schwebte.
Rand schaute zu ihr auf. Dann lächelte er. Und schließlich lachte er aus vollem Halse, ein unverfälschtes und echtes Lachen.
Es war viel zu lange her.
EPILOG
In Licht getaucht
Egwene arbeitete im Schein zweier Bronzelampen. Sie waren geformt wie Frauen, die ihre Hände nach oben hielten, und aus jeder Handfläche erwuchs eine Flamme. Das warme gelbe Licht spiegelte sich auf den Kurven ihrer Hände, Arme und Gesichter wider. Stellten sie Symbole der Weißen Burg und der Flamme von Tar Valon dar? Oder waren sie Darstellungen von Aes Sedai, die Feuer webten? Vielleicht waren sie auch nur einfach Relikte des Geschmacks einer früheren Amyrlin.
Sie standen auf beiden Seiten ihres Schreibtisches. Endlich ein vernünftiger Schreibtisch mit einem vernünftigen Stuhl davor. Egwene befand sich im Arbeitszimmer der Amyrlin, aus dem man alle Erinnerungen an Elaida entfernt hatte. Darum war es völlig kahl, die Wände waren nackt, die Holztäfelung war ohne jeden Schmuck wie Bilder oder Wandbehänge, auf den Beistelltischen standen keine Kunstwerke. Selbst die Bücherregale waren ausgeräumt worden, damit keine Spur von Elaida Egwene beleidigen konnte.
Als Egwene gesehen hatte, was die anderen getan hatten, hatte sie sofort befohlen, dass man Elaidas sämtliche Habe sammelte und sicher verwahrte, bewacht von Frauen, denen Egwene vertraute. Unter diesen Dingen würden sich Hinweise auf Elaidas Pläne verbergen. Möglicherweise etwas so Einfaches wie zwischen die Seiten eines Buches gesteckte Zettel, auf die man später noch einmal zurückgreifen wollte. Oder möglicherweise so etwas Obskures wie die Verbindung zwischen den Büchern, die sie gelesen hatte, oder die Gegenstände, die sie in ihren Schreibtischschubladen aufbewahrt hatte. Aber Elaida konnten sie nicht befragen, und niemand vermochte zu sagen, welche ihrer Pläne zu einem späteren Zeitpunkt ihr hässliches Haupt erheben und die Weiße Burg beißen würden. Egwene würde sich diese Gegenstände alle ansehen, danach mit jeder Aes Sedai sprechen, die in der Weißen Burg gewesen war, und herausfinden, welche Hinweise sie verbargen.
Im Augenblick hatte sie alle Hände voll zu tun. Sie schüttelte den Kopf und wandte sich wieder den Seiten von Silvianas Bericht zu. Die Frau erwies sich in der Tat als fähige Behüterin, weitaus kompetenter, als Sheriam je gewesen war. Die Loyalisten unter den Frauen respektierten Silviana, und die Rote Ajah schien Egwenes Friedensangebot, eine der ihren zu ihrer Behüterin zu machen, zumindest teilweise akzeptiert zu haben.
Natürlich hatte Egwene zwei steif formulierte, von Missbilligung förmlich triefende Briefe ganz unten in dem Stapel liegen - einer von Romanda und einer von Lelaine. Die beiden Frauen hatten ihre überschwängliche Unterstützung beinahe genauso schnell wieder zurückgenommen, wie sie sie gegeben hatten. Im Augenblick stritten sie sich darüber, wie man mit den Damane verfahren sollte, die Egwene während des Angriffs auf die Weiße Burg gefangen genommen hatte; keiner der beiden gefiel Egwenes Plan, sie zu Aes Sedai auszubilden. Anscheinend würden Romanda und Lelaine ihr noch jahrelang das Leben schwer machen.
Sie legte die Berichte zur Seite. Es war später Nachmittag, und Licht spähte durch die Schlitze der geschlossenen Jalousie ihres Balkons. Sie öffnete sie nicht, sondern zog das stille Zwielicht vor. Die Einsamkeit fühlte sich gut an.
Für den Augenblick störte sie die schlichte Ausstattung des Raumes nicht. Sicher, es erinnerte sie etwas zu sehr an das Arbeitszimmer der Oberin der Novizinnen, aber keine Zahl an Wandteppichen würde die Erinnerung an jene Tage auslöschen können, nicht, wenn Silviana ihre Behüterin war. Aber das ging schon in Ordnung. Warum sollte sie diese Tage aus ihrem Gedächtnis streichen wollen? Sie hatte damals einige ihrer wichtigsten Siege errungen.
Auch wenn sie sicherlich nichts dagegen hatte, sich hinsetzen zu können, ohne zusammenzucken zu müssen.
Sie lächelte schmal und wandte sich Silvianas nächstem Bericht zu. Dann runzelte sie die Stirn. Die meisten der Schwarzen Ajah in der Burg hatten entkommen können. Der Bericht in Silvianas sorgfältiger, schwungvoller Schrift verriet ihr, dass es ihnen gelungen war, in den Stunden nach Egwenes Erhebung einige der Schwarzen zu ergreifen, aber es waren nur die Schwächsten unter ihnen gewesen. Der größte Teil von ihnen - etwa sechzig Schwestern - war entkommen. Einschließlich einer Sitzenden, die Egwene schon zuvor aufgefallen war, deren Name aber nicht auf Verins Liste gestanden hatte. Evanelleins Verschwinden war ein deutlicher Hinweis, dass sie eine Schwarze war.
Egwene nahm einen anderen Bericht und runzelte erneut die Stirn. Es war eine Auflistung aller Frauen in der Weißen Burg, eine ausführliche, mehrere Seiten umfassende, nach Ajahs sortierte Liste. Viele Namen trugen einen Verweis an der Seite. Schwarz, entkommen. Schwarz, gefangen. Von den Seanchanern entführt.
Die letzte Gruppe war mehr als ärgerlich. Saerin hatte Voraussicht bewiesen und nach dem Angriff eine Zählung durchgeführt, um genau feststellen zu können, wer gefangen genommen worden war. Beinahe vierzig Eingeweihte - über zwei Dutzend von ihnen vollwertige Aes Sedai -, die in der Nacht gepackt und verschleppt worden waren. Es war wie eine Geschichte, die man Kindern zur Schlafengehenszeit erzählte und die vor Blassen oder Halbmenschen warnte, die unartige Kinder stahlen. Man würde diese Frauen schlagen, einsperren und in nichts anderes als willenlose Werkzeuge verwandeln.