Im Dreifachen Land wäre diese Wiese - und die Hügel, die für Wachtposten und Schutz sorgten - sofort von einer Septime in Beschlag genommen und als Ackerland benutzt worden. Hier war es bloß ein weiteres von tausend unberührten Stücken Land. Wieder lag der Fehler bei den Städten. Die nächsten von ihnen waren zu weit entfernt von diesem Ort, als dass es eine gute Stelle für einen Feuchtländerhof gewesen wäre.
Die acht Aiel liefen über das Gras, bewegten sich mit Schnelligkeit und Verstohlenheit zwischen den Hügeln hindurch. Pferde konnten nicht mit den Füßen eines Menschen mithalten, wenn man nur an ihren donnernden Galopp dachte. Schreckliche Kreaturen - warum beharrten die Feuchtländer nur darauf, auf ihnen zu reiten? Verblüffend. Aviendha konnte lernen, wie ein Häuptling oder eine Königin denken musste, aber Feuchtländer würde sie niemals richtig verstehen, das war ihr klar. Sie waren einfach zu seltsam. Selbst Rand al'Thor.
Vor allem Rand al'Thor. Sie lächelte und dachte an seine ernsten Augen. Sie erinnerte sich an seinen Geruch - Feuchtländerseife, die nach Öl duftete, vermischt mit diesem besonderen erdigen Moschus. Sie würde ihn heiraten. In dieser Hinsicht war sie so entschlossen wie Elayne. Jetzt, da sie Erstschwestern waren, konnten sie ihn gemeinsam heiraten, wie es sich gehörte. Andererseits, wie sollte sie jetzt noch jemanden heiraten können? Ihre Ehre hatte in ihren Speeren gelegen, aber Rand al'Thor trug sie an seiner Taille; man hatte aus ihnen eine Gürtelschnalle geschmiedet, die sie ihm mit eigener Hand überreicht hatte.
Er hatte ihr einmal die Ehe angeboten. Ein Mann! Der ihr die Ehe anbot! Noch eine dieser seltsamen Feuchtländersitten. Selbst wenn man einmal vergaß, wie verrückt das Ganze doch war - und die Beleidigung außer Acht ließ, die sein Antrag für Elayne bedeutete -, hätte Aviendha Rand al'Thor niemals als Ehemann akzeptieren können. Konnte er nicht verstehen, dass eine Frau Ehre in eine Ehe mitbringen musste? Was hatte ein Lehrling schon zu bieten? Wollte er, dass sie als Untergebene zu ihm kam? Das zu tun hätte sie auf schreckliche Weise entehrt!
Es gab nur eine Erklärung - er hatte es einfach nicht verstanden. Sie hielt ihn nicht für grausam, lediglich für begriffsstutzig. Sie würde zu ihm kommen, wenn sie bereit war, und ihm dann das Brautgebinde zu Füßen legen. Und das konnte sie nicht tun, bevor sie wusste, wer sie war.
Die Wege des Ji'e'toh waren kompliziert. Aviendha wusste, wie man als Tochter die Ehre maß, aber Weise Frauen waren da eine ganz andere Kategorie. Sie hatte geglaubt, bei ihnen eine gewisse Anerkennung und Ehre zu finden. Zum Beispiel hatten sie ihr erlaubt, viel Zeit mit ihrer Erstschwester in Caemlyn zu verbringen. Aber dann waren Dorindha und Nadere dahergekommen und hatten ihr mitgeteilt, dass sie ihre Ausbildung vernachlässigte. Sie hatten sie wie ein Kind gepackt, das heimlich vor einem Schweißzelt lauschte, und sie zu ihrem Clan geschleppt, der gerade nach Arad Doman aufbrach.
Und jetzt ... und jetzt behandelten die Weisen Frauen sie mit weniger Respekt als je zuvor! Sie boten ihr nicht an, sie zu unterrichten. Irgendwie hatte sie in ihren Augen einen Fehler begangen. Bei dem Gedanken verkrampfte sich ihr Magen. Sich vor den anderen Weisen Frauen zu blamieren war beinahe genauso schlimm, wie vor jemandem, der so mutig wie Elayne war, Furcht zu zeigen!
Bis jetzt hatten die Weisen Frauen ihr eine gewisse Ehre zugestanden, indem sie ihr Strafen auferlegten, aber sie wusste nicht, was sie getan hatte, um sich selbst Schande zu bereiten. Danach zu fragen würde natürlich nur noch mehr Schande bringen. Erst wenn sie dieses Durcheinander entwirrt hatte, konnte sie ihr Toh wieder erfüllen. Schlimmer noch, es bestand die Gefahr, dass sie denselben Fehler noch einmal beging. Bis sie dieses Problem gelöst hatte, würde sie ein Lehrling bleiben, und sie würde Rand al'Thor nie ein ehrenhaftes Brautgebinde übergeben können.
Aviendha knirschte mit den Zähnen. Eine andere Frau hätte vielleicht geweint, aber was hätte das gebracht? Welche Fehler sie auch immer begangen hatte, das hatte sie sich selbst eingebrockt, und es war ihre Pflicht, es wieder zu richten. Sie würde ihre Ehre zurückerlangen, und sie würde Rand al'Thor heiraten, bevor er in der Letzten Schlacht starb.
Also musste sie das, was sie unbedingt wissen musste, schnell in Erfahrung bringen. Sehr schnell.
Auf einer kleinen, von Kiefern umgebenen Lichtung trafen sie sich mit einer anderen Gruppe Aiel. Ein dicker brauner Nadelteppich bedeckte den Boden, die gewaltigen Baumstämme versperrten den Blick zum Himmel. Nach den Maßstäben von Clans und Septimen war es eine kleine Gruppe, kaum zweihundert Personen. In der Mitte der Lichtung standen vier Weise Frauen. Jede von ihnen trug den charakteristischen braunen Rock und die weiße Bluse. Aviendha trug ähnliche Kleidung, die ihr mittlerweile so natürlich vorkam wie einst der Cadin'sor. Die Spähergruppe löste sich auf, Männer und Töchter gesellten sich zu den Mitgliedern ihrer eigenen Clans oder Gemeinschaften. Rhuarc ging zu den Weisen Frauen, und Aviendha folgte ihm.
Jede der Weisen Frauen - Amys, Bair, Melaine und Nadere - warf ihr einen Blick zu. Bair, die einzige Aiel in der Gruppe, die keine Taardad oder Goshien war, war erst vor kurzem eingetroffen, vielleicht um sich mit den anderen abzusprechen. Was aber auch der Grund war, keine von ihnen schien erfreut. Aviendha zögerte. Wenn sie jetzt ging, würde es dann so aussehen, als wollte sie sich ihrer Aufmerksamkeit entziehen? Sollte sie es wagen, stattdessen zu bleiben und das Risiko eingehen, weiteren Unmut hervorzurufen?
»Nun?«, sagte Amys zu Rhuarc. Auch wenn Amys weiße Haare hatte, sah sie doch ziemlich jung aus. In ihrem Fall lag das nicht an der Macht - ihre Haare waren schon als Kind ergraut.
»Es war, wie die Späher beschrieben haben, Schatten meines Herzens«, sagte Rhuarc. »Noch eine traurige Gruppe Feuchtländerflüchtlinge. Ich habe in ihnen keine verborgene Gefahr erkannt.«
Die Weise Frau nickte, als hätte sie damit gerechnet. »Das ist die zehnte Flüchtlingsgruppe in weniger als einer Woche«, sagte die ältere Bair; in ihren wässrigen blauen Augen lag ein nachdenklicher Ausdruck.
Rhuarc nickte. »Es gibt Gerüchte, dass die Seanchaner im Westen Häfen angreifen. Vielleicht ziehen die Menschen ins Landesinnere, um den Angriffen zu entgehen.« Er sah Amys an. »Dieses Land brodelt wie auf dem Herd verschüttetes Wasser. Die Clans sind sich unsicher, was sich Rand al'Thor von ihnen erwünscht.«
»Er hat sich sehr klar ausgedrückt«, meinte Bair. »Er wird sehr erfreut sein, dass Ihr und Dobraine Taborwin Bandar Eban gesichert habt, worum er gebeten hatte.«
Rhuarc nickte. »Trotzdem sind seine Absichten nicht klar. Er hat uns gebeten, die Ordnung wiederherzustellen. Sollen wir denn wie Stadtwächter der Feuchtländer sein? Das ist kein Ort für einen Aiel. Wir sollen nicht erobern, also erhalten wir auch kein Fünftel. Und doch erscheint das, was wir tun, sehr wie eine Eroberung. Die Befehle des Car'a'carns können zugleich klar und verwirrend sein. Ich glaube, was das angeht, hat er ein echtes Talent.«
Bair lächelte und nickte. »Vielleicht will er, dass wir etwas mit diesen Flüchtlingen machen.«
»Und was sollten wir tun?«, fragte Amys und schüttelte den Kopf. »Sind wir Shaido, erwartet man von uns, aus Feuchtländern Gai'schain zu machen?« Ihr Ton ließ keinen Zweifel, was sie sowohl von den Shaido wie auch von der Idee hielt, Feuchtländer zu Gai'schain zu machen.
Aviendha nickte zustimmend. Wie Rhuarc schon gesagt hatte, der Car'a'carn hatte sie nach Arad Doman geschickt, um »die Ordnung wiederherzustellen«. Aber das war ein typisches Feuchtländer-Konzept; Aiel brachten ihre eigene Ordnung mit sich. Krieg und Schlachten waren voller Chaos, sicher, aber jeder Aiel kannte seinen Platz und würde auch dementsprechend handeln. Kleine Kinder verstanden Ehre und Toh, und ein Haushalt funktionierte auch dann noch, sollten alle Anführer und Weise Frauen getötet worden sein.