Bei den Feuchtländern war das völlig anders. Sie rannten herum wie ein Korb wilder Echsen, den man auf heiße Steine hatte fallen lassen, kümmerten sich nicht um Vorräte, wenn sie flohen. Sobald ihre Anführer beschäftigt und abgelenkt waren, herrschte Banditentum und Chaos. Die Starken beraubten die Schwachen, und nicht einmal Schmiede waren sicher.
Was erwartete Rand al'Thor von den Aiel? Sie konnten doch keiner ganzen Nation das Ji'e'toh beibringen. Rand al'Thor hatte ihnen befohlen, nach Möglichkeit keine Soldaten der Domani zu töten. Aber diese Truppen - die oft korrupt und selbst zu Banditen geworden waren - waren Teil des Problems.
»Vielleicht wird er es genauer erklären, wenn wir bei seinem Herrenhaus eintreffen«, sagte Melaine und schüttelte den Kopf. Ihr rotblondes Haar fing das Licht ein. Unter ihrer Bluse waren die ersten Anzeichen ihrer Schwangerschaft zu sehen. »Und wenn nicht, dann ist es sicherlich besser für uns, hier in Arad Doman zu sein, als noch mehr Zeit im Land der Baummörder verbringen zu müssen.«
»Da habt Ihr recht«, meinte Rhuarc. »Dann lasst uns aufbrechen.« Er ging los, um mit Bael zu sprechen. Aviendha trat einen Schritt zur Seite, aber Amys warf ihr einen bösen Blick zu, und sie erstarrte.
»Aviendha«, sagte die harte, weißhaarige Frau. »Wie viele Weise Frauen sind mit Rhuarc aufgebrochen, um sich diesen Flüchtlingstreck anzusehen?«
»Nur ich«, gab Aviendha zu.
»Ach, und du bist jetzt eine Weise Frau?«, fragte Bair.
»Nein«, erwiderte Aviendha schnell und häufte noch mehr Schande auf sich, weil sie errötete. »Das war eine dumme Bemerkung.«
»Dann sollst du bestraft werden«, sagte Bair. »Aviendha, du bist keine Tochter mehr. Es steht dir nicht zu, mit den Spähern zu ziehen. Diese Aufgabe haben andere zu erledigen.«
»Ja, Weise Frau«, sagte Aviendha und schaute zu Boden. Ihr war nicht in den Sinn gekommen, dass es ihr Schande einbringen würde, wenn sie Rhuarc begleitete - andere Weise Frauen hatten ähnliche Aufgaben verrichtet.
Aber ich bin keine Weise Frau, rief sie sich ins Gedächtnis zurück. Ich bin nur ein Lehrling. Bair hatte nicht gesagt, dass eine Weise Frau keinen Spähtrupp begleiten durfte; nur dass ihr nicht zustand, das zu tun. Hier ging es allein um sie. Und um das, was auch immer sie getan hatte, um die Weisen Frauen zu provozieren. Oder möglicherweise noch immer tat.
Glaubten sie vielleicht, die Zeit bei Elayne hätte sie verweichlicht? Aviendha sorgte sich selbst, dass das möglicherweise der Fall war. Während ihres Aufenthalts in Caemlyn hatte sie gelernt, Seide und Bäder zu schätzen. Am Ende hatte sie nur kraftlos protestiert, wenn Elayne einen neuen Vorwand gefunden hatte, um sie in ein unpraktisches und frivoles Gewand mit Stickereien und Spitze zu kleiden. Es war gut, dass man sie abgeholt hatte.
Die anderen standen einfach da und sahen sie erwartungsvoll an, ihre Gesichter waren wie rote Wüstensteine, reglos und streng. Aviendha biss wieder die Zähne zusammen. Sie würde ihre Lehrlingszeit beenden und Ehre erringen. Das würde sie.
Der Ruf, sich in Bewegung zu setzen, erscholl, und Männer und Frauen im Cadin'sor liefen in kleinen Gruppen zusammen los. Die Weisen Frauen bewegten sich trotz ihrer ausladenden Röcke genauso mühelos wie die Soldaten. Amys berührte Aviendhas Arm. »Du wirst mit mir laufen, damit wir deine Strafe besprechen können.«
Aviendha verfiel neben der Weisen Frau in einen schnellen Trab. Diese Geschwindigkeit konnte jeder Aiel eine fast uneingeschränkte Zeit durchhalten. Ihre Gruppe aus Caemlyn war zu Rhuarc gestoßen, als er aus Bandar Eban kam, um sich im westlichen Teil des Landes mit Rand al'Thor zu treffen. Dobraine Taborwin, ein Cairhiener, sorgte in der Hauptstadt noch immer für Ordnung, wo er angeblich ein Mitglied der Domani-Regierung aufgespürt hatte.
Natürlich hätten die Aiel den Rest des Weges durch ein Wegetor zurücklegen können. Aber es war nicht weit - nur ein paar Tage zu Fuß -, und sie waren früh genug aufgebrochen, um zur vereinbarten Zeit einzutreffen, ohne die Eine Macht benutzen zu müssen. Rhuarc wollte selbst einen Teil der Gegend um das Herrenhaus erforschen, das Rand al'Thor als Basis benutzte. Falls nötig, würden weitere Goshien oder Taardad Aiel mithilfe von Wegetoren sich dort zu ihnen gesellen.
»Wie denkst du über das, was der Car'a'carn von uns hier in Arad Doman verlangt, Aviendha?«, fragte Amys, während sie liefen.
Aviendha unterdrückte ein Stirnrunzeln. Was war denn aus ihrer Strafe geworden? »Diese Bitte verstößt gegen die Regeln«, sagte sie, »aber Rand al'Thor hat viele seltsame Ideen, selbst für einen Feuchtländer. Das wird nicht die ungewöhnlichste Pflicht sein, die er sich für uns einfallen lassen wird.«
»Und die Tatsache, dass Rhuarc diese Pflicht Unbehagen bereitet?«
»Ich bezweifle, dass dem Clanhäuptling unbehaglich zumute ist. Ich denke, dass Rhuarc das ausspricht, was andere gesagt haben, und er diese Information auf diese Weise an die Weisen Frauen weitergibt. Er will andere nicht entehren, indem er enthüllt, wer seine Befürchtungen ausgesprochen hat.«
Amys nickte. Was sollten diese Fragen? Sicherlich war die Frau zu dem gleichen Schluss gelangt. Sie würde bestimmt nicht zu ihr kommen, um sich Rat zu holen.
Eine Weile liefen sie schweigend, ohne dass Strafen erwähnt wurden. Hatten die Weisen Frauen ihr ihre unbeabsichtigte Beleidigung verziehen? Sicherlich würden sie sie nicht auf diese Weise entehren. Man musste ihr Zeit geben, damit sie selbst darauf kam, was sie getan hatte, andernfalls würde ihre Schande unerträglich sein. Möglicherweise würde sie wieder das Falsche tun, dieses Mal nur noch viel schlimmer.
Amys verriet durch nichts, was sie dachte. Die Weise Frau war genau wie Aviendha einst eine Tochter gewesen. Sie war hart, selbst für eine Aiel. »Und al'Thor?«, fragte sie. »Was hältst du von ihm?«
»Ich liebe ihn«, sagte Aviendha.
»Ich habe nicht Aviendha das dumme Mädchen gefragt«, sagte Amys barsch. »Ich habe Aviendha die Weise Frau gefragt.«
»Er ist ein Mann, der viele Bürden trägt.« Aviendha wählte ihre Worte sorgfältig. »Ich fürchte, dass er viele dieser Bürden schwerer macht, als sie sein müssten. Einst war ich der Meinung, dass man nur auf eine Weise stark sein kann, aber von meiner Erstschwester habe ich gelernt, dass ich da im Irrtum war. Rand al'Thor ... ich glaube nicht, dass er das schon gelernt hat. Ich sorge mich, dass er Härte mit Stärke verwechselt.«
Amys nickte wieder, als würde sie ihr zustimmen. Sollten diese Fragen eine Art Prüfung sein?
»Du würdest ihn heiraten?«, fragte Amys.
Wir wollten doch nicht über Aviendha »das dumme Mädchen« reden, dachte Aviendha, aber natürlich sprach sie das nicht aus. So etwas sagte man nicht zu Amys.
»Ich werde ihn heiraten«, sagte sie stattdessen. »Das ist keine Möglichkeit, sondern eine Tatsache.« Der Tonfall brachte ihr einen Seitenblick von Amys ein, aber sie knickte nicht ein. Jede Weise Frau, die sich versprach, hatte es verdient, dass man sie korrigierte.
»Und die Feuchtländerin Min Farshaw? Offensichtlich liebt sie ihn. Was wirst du wegen ihr unternehmen?«
»Das ist meine Angelegenheit. Wir werden eine Übereinkunft finden. Ich habe mit Min Farshaw gesprochen, und ich glaube, sie wird sich nicht widersetzen.«
»Du würdest auch sie zur Erstschwester nehmen?« Irgendwie klang Amys amüsiert.
»Wir werden eine Übereinkunft finden, Weise Frau.«
»Und wenn nicht?«
»Das werden wir«, sagte Aviendha energisch.
»Und wieso bist du dir da so sicher?«
Aviendha zögerte. Ein Teil von ihr wollte auf diese Frage nur mit Schweigen reagieren, wollte die blattlosen Dickichte passieren und Amys keine Antwort geben. Aber sie war nur ein Lehrling, und auch wenn man sie nicht zu einer Antwort zwingen konnte, wusste sie doch genau, dass Amys so lange nachhaken würde, bis die Antwort kam. Sie hoffte bloß, dass sie durch ihre Erwiderung nicht zu viel Toh auf sich laden würde.