Das weiße Tuch der großen Segel reflektierte das Mondlicht und zeigte die Position der schlanken Bark an, die auf südlichem Kurs durch die Wasserwüste der Nordsee glitt. Fünf Tage und Nächte dauerte die Reise bislang, und noch verhielt sich das Meer verhältnismäßig ruhig - als halte es den Atem an für Größeres.
So hatte die ALBANY, um rasch voranzukommen, alle Segel gesetzt, die jetzt an den drei hohen Masten im Wind knatterten. Ging die Fahrt auch gut voran, so stand die weite Reise von Hamburg nach New York doch erst an ihrem Beginn. Einem Mann kam sie schon jetzt lang vor: dem blinden Passagier, der in einer beengten Höhle unter einem Ruderboot zwischen Fock- und Großmast lag und den Geräuschen der Nacht lauschte.
Jacob Adler, der seine vermutlich nach Amerika ausgewanderte Familie in dem großen, fremden Land jenseits des Atlantiks suchen wollte, wußte nicht mehr, wie er sich drehen und wenden sollte. Eingesperrt in Enge und Dunkelheit, war die Schiffsreise für ihn zur Qual geworden. Aber er wagte es nicht, sein Versteck zu verlassen, um sich die Beine zu vertreten, auch nicht nachts. Zu nah war die Bark noch den heimatlichen Gefilden.
Der junge Zimmermann, der aufgrund einer falschen Anschuldigung wegen Mordversuches steckbrieflich gesucht wurde, befürchtete, der Kapitän könne einen niederländischen oder britischen Hafen anlaufen und ihn den Behörden übergeben. Allein schon, um sich das ausgesetzte Kopfgeld in der beachtlichen Höhe von hundert Talern zu verdienen.
Einzig der Umstand, daß Jacob nichts von der üblen Seekrankheit verspürte, die trotz der ruhigen See einigen Passagieren schwer zu schaffen machte, erleichterte ihm sein Los ein wenig.
Dabei hatte er die Passage bezahlt. Doch der verräterische Schiffahrtsagent August Bult hatte ihn an die Polizei verraten, so daß Jacob nur mit Hilfe seines neuen Freundes Martin Bauer, den er in Hamburg kennengelernt hatte, an Bord der ALBANY gelangt war.
Das amerikanische Schiff sollte ein paar hundert deutsche Auswanderer nach New York bringen. Martin Bauer, der stämmige Sohn eines Landwirts, war einer der vielen, die auf engstem Raum im Zwischendeck zusammengepfercht waren. Nur wenige Passagiere konnten sich den Luxus der Überfahrt in einer Kabine leisten, die ihnen zwar nicht allein gehörte, ihnen aber wenigstens eine eigene Koje bot.
Jacob hatte von Martin, der ihm jede Nacht zu essen und zu trinken brachte, gehört, die ALBANY sei derart überladen, daß sich im Zwischendeck nicht - wie üblich - vier Passagiere eine Schlafstelle teilen mußten, sondern fünf bis sechs. Wenn man bedachte, daß eine solche aus Brettern bestehende Lagerstatt keine sieben Fuß im Quadrat maß, war das zum Schlafen weit weniger Raum, als Jacob zur Verfügung stand.
Aber die regulären Passagiere hatten wenigstens tagsüber ihren Auslauf auf Deck, während Jacob sich besonders ruhig verhalten mußte und in der ständigen Gefahr schwebte, von einem der herumtollenden Kinder entdeckt zu werden.
Trotz dieser Gefahr hatte Jacob es aufgegeben, seinen Tagesablauf, wollte man von so etwas überhaupt sprechen, nach den Zeiten von Helligkeit und Dunkelheit einzuteilen.
Da es bei ihm stets dunkel war, schlief er auch schon mal tagsüber und blieb dafür nachts wach.
In diesen Nächten, so wie jetzt, hörte er gern dem Meer zu, das gegen die ständig knarrenden Planken spülte und eine eigene Melodie zu singen schien. Diese Melodie war ein Lied, das von fernen Küsten, unbekannten Ländern und aufregenden Abenteuern erzählte. Jacob hörte das Lied gern und malte sich dabei die tollsten Dinge über das geheimnisvolle Amerika aus.
Ob es dort wirklich zottige Bären gab, doppelt so hoch wie ein ausgewachsener Mann? Wilde Indianer, die ihren Feinden die Haarpracht bei lebendigem Leib abschnitten und als Siegeszeichen an ihre Gürtel hängten? Und Flüsse, so breit, daß man mit bloßem Auge das andere Ufer nicht erkennen konnte?
Jacob hatte viele Geschichten über Amerika gehört, wenn er und die anderen Handwerksburschen nachts beisammen saßen und sich mit Erzählungen die Zeit vertrieben. Er hatte nicht geahnt, so kurz nach Beendigung seiner Wanderschaft selbst nach diesem sagenhaften Land der Freiheit und Gleichheit zu fahren.
Aber er hatte auch nicht damit gerechnet, sein Elternhaus abgerissen und auf dem Grundstück ein neues Lagerhaus der Brauerei Arning vorzufinden. Louisa Vogel, die er hatte heiraten wollen, war die Frau von Bertram Arning, dem Sohn des alten Bierkönigs, wie der Brauereibesitzer Conrad Arning genannt wurde. Jacobs Mutter lag auf dem Elbstedter Friedhof begraben. Sein Vater und seine drei Geschwister waren verschwunden, angeblich auf der Elbe nach Hamburg gefahren, um von dort aus nach Amerika auszuwandern.
Ein fast verbrannter Brief seines Vaters deutete darauf hin. Und der Umstand, daß Jacobs Onkel Nathan Berger, ein Bruder seiner Mutter, eine große Pflanzung in Texas besaß.
Darum fuhr Jacob, von Bertram Arning verleumdet, als Flüchtling über das große Meer und lauschte dem Lied der Wellen, das plötzlich durch menschliche Stimmen gestört wurde...
*
Anfangs drangen die Stimmen nur verhalten und bruchstückhaft an Jacobs Ohr, so daß er die Worte nicht verstehen konnte. Es waren die Stimmen mehrerer Männer, die er auch noch nicht verstand, als sie lauter sprachen. Aber er erkannte, daß es Englisch war, wie es vom größten Teil der Schiffsbesatzung gesprochen wurde. Die ALBANY war ein amerikanischer Segler mit dem Heimathafen New York, und bis auf wenige Ausnahmen bestand die Mannschaft aus Amerikanern.
Dann jedoch mischten sich deutsche Worte in die englischen. Die verängstigte Stimme einer jungen Frau. »Nein, bitte, lassen Sie mich. Nein!«
Die eben noch laut anschwellende Stimme brach ab, wurde von hastigen Schritten abgelöst, die auf Jacobs Versteck zukamen.
Wieder sprach ein Mann, aber diesmal auf deutsch, wenn auch mit einem starken Akzent. »Wohin denn, Fräulein? Die ALBANY ist nicht sehr groß. Sie wollen doch nicht etwa ins Wasser hüpfen? Bleiben Sie hier, bei uns sind Sie gut aufgehoben!«
»Was. was wollen Sie von mir?« fragte die Frau, jetzt recht nah bei Jacob. Ihre Stimme zitterte so sehr vor Angst, daß sie sich fast überschlug.
»Wir wollen nur lieb zu Ihnen sein, Fräulein«, sagte der Mann mit dem starken Akzent und begleitete seine Worte mit einem schmutzigen Lachen. »Sie haben es doch gern, wenn Männer lieb zu Ihnen sind, nicht wahr?«
»Ich verstehe nicht, was Sie meinen.«
»Dein kleines Geheimnis verrät, wie sehr du Männer magst. Meine Freunde und ich mögen kleine Fräuleins sehr gern. Und wenn du lieb zu uns bist, erzählen wir auch nichts von deinem Geheimnis dem Kapitän.«
Jacob hörte Schritte, den spitzen Schrei der Frau und lautes Poltern, dann ein paar erstickte Rufe der Männer auf englisch. Er hielt es nicht länger in seinem Versteck aus, hob das Ruderboot ein wenig an und streckte seinen Kopf nach draußen.
Mond, Sterne und die wenigen Deckslaternen tauchten die Szenerie in ein diffuses Licht, das aber ausreichte, um Einzelheiten erkennen zu lassen. Eine Frau lag nahe der Steuerbordreling zwischen Jacobs Versteck und dem Großmast auf Deck, von drei Männern bedrängt. Die Seeleute hielten die Frau fest und hinderten sie am Sprechen. Einer griff in ihr Kleid und riß es mit einem heftigen Ruck in Fetzen.
Für eine Sekunde konnte die verschreckte Frau ihr Gesicht freimachen und wollte laut schreien. Aber schon lag wieder eine große Hand auf ihren Lippen, so daß sie nur ein ersticktes Röcheln zustande brachte.
Einer der Seeleute sagte etwas in seiner Muttersprache, und alle lachten. Wieder wurde der Wehrlosen ein Teil des Kleides abgerissen.
Das war der Augenblick, in dem Jacob unter dem Ruderboot vorrollte, vom Boden hochschnellte und mit nach vorn gesenktem Kopf, wie ein wütender Stier, auf die kleine Gruppe losstürmte.
Die drei Seeleute waren so überrascht, daß sie erst an keine Gegenwehr dachten. Ihre Köpfe ruckten hoch, und sie starrten den hochgewachsenen, breitschultrigen Mann, der aus dem Nichts zu kommen schien, ungläubig an wie einen leibhaftigen Klabautermann.