»Was ist mit Jacob?« fragte Martin, als die drei Seeleute sich davonmachen wollten.
»Was soll mit ihm sein?« erwiderte Maxwell. »Er liegt unten im Frachtraum in Ketten, wie es das Schiffsgericht beschlossen hat.«
»Darf ich ihn besuchen?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Weil es gegen die Regeln an Bord verstößt.«
Der Steuermann drehte sich um und ging in Begleitung der beiden Bewaffneten davon.
»Ich hoffe, Jacob wird gut behandelt und ausreichend mit Essen und Wasser versorgt!« rief Martin den Männern hinterher. »Ich werde mich danach erkundigen!«
Maxwells einzige Reaktion bestand in einem unwilligen Grunzen.
Martin schaute hinauf in den grauen Himmel, der sich immer mehr zuzog, und er dachte an seinen eingesperrten Freund. Er hätte ihm seine Lage gern erleichtert, aber sosehr er auch grübelte, er fand keine Möglichkeit. Nur in Gedanken konnte er Jacob beistehen.
*
Die ALBANY ächzte und stöhnte im Gebälk, als sie von der aufgewühlten See hin und her geworfen wurde. Die Zeit des ruhigen Seegangs schien vorbei zu sein.
Aber machte das für Jacob einen Unterschied? Seine Tage an Bord waren gezählt. Ob das Schiff demnächst einen britischen, einen niederländischen oder einen französischen Hafen anlief, blieb sich gleich. Wahrscheinlich würde Jacob bald schon im Gewahrsam der preußischen Polizei sein und der Gerichtsverhandlung wegen versuchten Mordes an Bertram Arning entgegensehen.
Diese Tatsache empfand der tief im Bauch des Seglers Gefangene als weniger schlimm als den Umstand, daß ihm dadurch das Wiedersehen mit seiner Familie verwehrt wurde. Und auch der Triumph, den Arning bei Jacobs Verurteilung empfinden würde, nagte an Jacobs Seele.
Am meisten beschäftigte ihn aber die junge Frau, Irene Sommer, deretwegen er sein Versteck aufgegeben hatte. Sie ging ihm einfach nicht aus dem Kopf, war seltsamerweise stärker in seinen Gedanken vertreten als Louisa, die er vor kurzem noch hatte heiraten wollen - als er noch nicht wußte, daß sie längst die Frau von Bertram Arning war.
Jacob empfand keine Wut auf Irene. Sie war nicht schuld an seiner Lage.
Vielmehr sorgte er sich um sie und das ungeborene Kind. Er fragte sich, wer wirklich der Vater sein mochte und warum die junge Frau ganz allein die Reise über den weiten Ozean angetreten hatte. Suchte sie jemanden oder etwas drüben in der Neuen Welt? Oder war sie auf der Flucht vor etwas in ihrer
Heimat? Vielleicht vermischten sich beide Motive, wie es bei Jacob der Fall war.
Der Gedanke an Irene, an ihr schönes Gesicht mit den goldblonden Locken, das er im Geiste vor sich sah, half ihm, die langen Stunden in seinem schwimmenden Kerker zu überstehen. Hin und wieder drängten Wellen von Schmerz und Übelkeit heran, ausgesandt von seinem linken Arm und seinem Hinterkopf, aber Irenes Bild verbannte sie ins zweite Glied.
Merkwürdig, daß ihn eine Frau so stark beschäftigte, die er kaum kannte. Er machte sich mehr Sorgen um sie als um sich selbst. Was mochte sie daheim in Deutschland erwarten?
*
Dieser Tag auf See, der sechste der bisherigen Reise, war unruhig in jeder Beziehung.
Unruhig war Martin Bauer, der breitbeinig über das Deck stakste und sich den Kopf darüber zerbrach, wie er seinem Freund helfen konnte.
Unruhig war der Himmel, der sich zusehends mit dicken Wolken zuzog und durch den ein immer heftigerer Wind brauste, der von achtern in die Segel der ALBANY fuhr.
Unruhig war das Meer, aufgepeitscht vom aufkommenden Sturm. Große Brecher schlugen gegen das hölzerne Menschenwerk, das sich die ehrgeizige Aufgabe gestellt hatte, den gewaltigen Ozean zu überqueren.
Unruhig war deshalb das Schiff selbst, das von einer Seite auf die andere geworfen wurde und dessen Planken und Balken unter der Anstrengung keuchten wie ein alter Mann beim Erklimmen eines steilen Berges.
Unruhig war die Mannschaft der Bark, die von Bob Maxwell in die Wanten gescheucht wurde, um einen Teil der Segel einzuholen. Die verbleibende Takelage reichte bei dem heftigen Wind aus, um der ALBANY eine kaum verringerte
Reisegeschwindigkeit zu garantieren.
Und unruhig waren die Auswanderer, aus mehreren Gründen.
Die Gerichtsverhandlung und ihr Ergebnis hatten sich herumgesprochen und sorgten, als willkommene Abwechslung auf der eintönigen Reise, für Gesprächsstoff. Überall an und unter Deck bildeten sich kleine Gruppen und diskutierten die Angelegenheit, wobei mangels ausreichend bekannter Tatsachen der Phantasie beim Ausspinnen der Geschichte freien Raum gelassen wurde. So kam Martin ein Gerücht zu Ohren, wonach Jacob Adler und Irene Sommer in Wahrheit ein entmachtetes Königspaar aus einem osteuropäischen Staat seien, das sich auf der Flucht vor den neuen Machthabern inkognito an Bord der ALBANY geschlichen habe.
Das Schlingern des Schiffes sorgte für zusätzliche Unruhe unter den Auswanderern. Die meisten derjenigen, die bislang von der Seekrankheit verschont geblieben waren, verspürten plötzlich den Würgegriff des heimtückischen Übels. Viele stürzten Hals über Kopf an Deck, drängten an die schon gut besuchte Reling und streckten den Kopf hinüber, um die Übelkeit aus ihren Gedärmen zu speien. Andere schafften es nicht so weit und übergaben sich, wo sie gerade standen, gingen oder liefen. Wieder andere hielt die Krankheit so stark in ihren Klauen, daß sie ermattet auf ihren Strohsäcken lagen und sich sowie ihre Schlafstellen hemmungslos besudelten.
Alle wünschten sich, daß sie lieber auf das sowieso nicht besonders schmackhafte Frühstück verzichtet hätten. Martin, der dies getan hatte, beglückwünschte sich zu seiner Entscheidung; bis jetzt war die einzige Unannehmlichkeit durch die Seekrankheit für ihn ihre mittelbare Auswirkung: Wo er auch hinging, er mußte höllisch aufpassen, nicht in das zu treten, was seine Reisegefährten nicht bei sich behalten hatten.
Aber dann fiel er in die Hände von Bob Maxwell. Der Erste Steuermann rekrutierte aus den dünnen Reihen der nicht von
Übelkeit befallenen Auswanderer Trupps, die Deck und Zwischendeck zu reinigen hatten. Dabei wurde äußerst rigoros vorgegangen. Wer im Zwischendeck seine Schlafstelle infolge der Seekrankheit nicht räumen konnte oder wollte, wurde einfach mitsamt dem Gestell gesäubert, wenn die Reinigungstrupps Eimer mit Seewasser über alles gossen.
Ausnahmsweise stimmte Martin dem Ersten Steuermann zu. Besonders das Zwischendeck hatte eine Reinigung dringend nötig, wollten die Auswanderer nicht in ihren eigenen Ausscheidungen ersticken. Jetzt war es vielleicht unbequem, trotz der Übelkeit seine Schlafstelle zu räumen. Aber in der Nacht wollte sicher niemand gern in seinem eigenen Erbrochenen oder gar in dem seiner Schlafgenossen nächtigen. Fast niemand, korrigierte sich Martin. Ein paar der Reisenden waren in bezug auf ihre Körperpflege so hartgesotten, als wären sie daheim im Schweinestall aufgewachsen. Und so rochen - besser: stanken - sie auch.
Die Reinigungstrupps waren mit ihrer Arbeit gerade fertig, als der Smutje das Mittagessen ausrief. Verständlicherweise herrschte - im Gegensatz zu den vorangegangenen Tagen -heute kaum Andrang vor dem Küchenaufbau, der auf Deck errichtet worden war, damit die Auswandererschar beim Essenfassen genügend Raum hatte.
Doch Martin verspürte plötzlich nicht nur Hunger, sondern auch Appetit. Vielleicht war es die rauhe Seeluft in Verbindung mit der körperlichen Arbeit, die ihn dazu trieb, sein Eßgeschirr zu holen und sich an der kleinen Schlange vor der Küche anzustellen.
Heute überwogen hier die Besatzungsmitglieder, die den Seegang gewohnt waren und ihn nicht einmal als besonders stark empfanden. Ihre Verpflegung unterschied sich nicht von derjenigen der Auswanderer.
Lediglich die gutbetuchten Kajütpassagiere kamen, wie auch die Offiziere des Schiffes, in den Genuß besseren Essens. Und wie die Offiziere mußten sie sich nicht in der Küche anstellen, sondern wurden vom Schiffssteward - eine Funktion, die an Bord der ALBANY der Smutje zu erfüllen hatte - bedient.