Beim Anblick der vielen Mitreisenden, die sich über die Reling beugten und ihren wenigen hungrigen Gefährten neidische bis schadenfrohe Blicke zuwarfen, beschlichen Martin Zweifel, ob er tatsächlieh etwas essen sollte. Aber als Sohn eines Heidebauern hatte er immer genug zu essen gehabt und war einfach daran gewöhnt, wenigstens einmal am Tag eine richtige Mahlzeit zu sich zu nehmen.
Deshalb hielt er seinen tiefen Blechteller in die Durchreiche, als er an der Reihe war, und sah zu, wie ihn der dicke Dietrich Melzer, der aus Pommern stammende Schiffskoch, mit einem hellbraunen Mischmasch füllte.
»Was ist das?« erkundigte sich Martin vorsichtig.
»Ochsenfleisch mit Kartoffeln.«
»Zusammengemischt?«
»Genau.«
»Aber das gab es doch gestern erst.«
»Nein, das war Ochsenfleisch mit Reis.«
»Und vorgestern?«
»Ochsenfleisch mit Graupen.«
»Aber davor, da gab es auch Kartoffeln.«
Der Schiffskoch nickte. »Aber mit Schweinefleisch. Sonst noch Fragen?«
»Ja, eine. Wo ist der Nachtisch?«
»Heute gibt's Pflaumen zum Nachtisch.«
»Und wo sind die?«
Melzer zeigte auf den Inhalt von Martins Teller. »Da drin.«
»Zwischen dem Fleisch und den Kartoffeln?«
Der Koch grinste. »Kluger Bursche. Spart Arbeit beim Kochen. Und jetzt schieb ab! Die anderen wollen auch was essen.«
»Manche werden halt nie klug«, murmelte Martin und zog sich mit seinem Essen hinter den Großmast zurück, wo er sich auf den Boden setzte und sich mit dem Rücken gegen die Gangspill lehnte.
Zögernd probierte er das zerkochte Mittagsmahl, das zumindest heiß war. Bei dem stürmischen Wetter, das immer wieder die Gischt über die Reling schlug, ein nicht zu unterschätzender Umstand. Wider Erwarten schmeckte das braune Gemisch recht gut. Süßsauer zwar, was der an deftige Bauernkost gewöhnte Mann nicht kannte, aber es behagte seinen Geschmacksnerven. So sehr, daß er sich einen Nachschlag holte.
An anderen Tagen war der Koch mit dem Essen eher knauserig, damit er die vielhundertköpfige Schar auch satt bekam. Aber heute verlangten so wenig Leute nach Essen, daß er reichlich zu verteilen hatte.
Als Martin sich vollkommen satt gegen ein Ruderboot lehnte und hinaus aufs immer wilder tobende Meer sah, fühlte er sich rundum zufrieden. Aber dann beschlich ihn sein schlechtes
Gewissen, als er an Jacob dachte.
*
Der mangelnde Schlaf der letzten Nacht und das unentwegte Schaukeln des Schiffes wiegten Jacob irgendwann in einen Schlummer, in dem er von besseren Zeiten träumte. Von seiner Jugend, als sein Elternhaus an der Elbe noch stand und die ganze Familie Adler dort in bescheidenen, aber zufriedenen Verhältnissen lebte. Auch seine Mutter, die über den Verlust des Hauses gestorben war und jetzt in der kalten Friedhofserde ruhte.
Etwas störte seinen schönen Traum und riß ihn zurück in die häßliche Wirklichkeit. Er lag wieder in Eisen gefesselt in der Dunkelheit, nur von den leisen Geräuschen des Schiffes und des Meeres umgeben.
Nein, da war noch etwas in seinem kleinen Gefängnis. Etwas, das leise, unregelmäßige Geräusche verursachte, als es an einer Wand entlanghuschte. Als er das leise Quieken hörte, wußte er, was es war.
Die Ratten waren wieder da!
Kamen sie nur aus Neugier aus unsichtbaren Löchern in seinen Kerker gekrochen? Oder wollten sie Rache nehmen für den verlorenen Kampf ein paar Stunden zuvor?
Jacob zwang sich zu klarem Denken. Er durfte die Tiere nicht als Teufel betrachten, ihnen keine dämonischen Kräfte zuschreiben. Sonst lief er Gefahr, den Verstand zu verlieren hier in der Abgeschiedenheit seines Gefängnisses, wo er von niemandem Hilfe zu erwarten hatte.
Er schätzte die Zahl der Tiere auf drei oder vier. Erst ließen sie ihn in Ruhe, aber allmählich wurden sie mutiger, wagten sich weiter an ihn heran, streiften an seinen Füßen und Beinen entlang.
Schnell sprang er auf und trat abermals wild um sich, in der Hoffnung, ein paar der Tiere so derb zu erwischen, daß ihnen Neugier und Angriffslust verging. Lautes Gequieke kündete vom Erfolg seiner Bemühungen. Tatsächlich zogen sich die aufdringlichen Nager zurück.
Als Jacob sicher war, daß sie sein Gefängnis verlassen hatten, ließ er sich wieder auf dem Boden nieder. Er war den Angreifern überlegen gewesen.
Aber was war, wenn sie mit einer Übermacht zurückkehrten?
*
Als die Schiffswache wechselte und Piet Hansen für die nächsten acht Glasen, was dem Zeitraum von vier Stunden entsprach, das Steuer übernahm, ging Martin nach achtern, um dem Zweiten Steuermann ein paar Fragen zu stellen, die ihm auf der Seele brannten.
Obwohl es mitten am Nachmittag war, hatte sich der Himmel so stark verdunkelt, als wolle die Sonne jeden Augenblick untergehen. Der Ozean wurde immer kühner und ließ den Dreimaster tanzen wie eine Nußschale. Die Schaumkronen, die das Meer sich aufgesetzt hatte, schienen der Freude über seine unbändige Kraft zu entspringen.
Mit einer Hand hielt Martin seine Wollmütze fest, mit der anderen sich selbst an allem, was gerade greifbar war, als er seinen Oberkörper tief nach vorn beugte und sich gegen den stärker werdenden Wind Zoll für Zoll zum Steuerrad kämpfte.
Die Seeleute, die erneut von Maxwell in die Wanten gejagt wurden, um weitere Segel zu reffen, erregten seine Bewunderung. Wie sie dort oben trotz des heftigen Windes mit einer Hand arbeiteten und nur die andere Hand für ihr Leben ließen, flößte Martin, dessen erste Schiffsfahrt dies war, ungeheuren Respekt ein.
So sehr war er damit beschäftigt, nach oben zu sehen, daß er den weißhaarigen Mann nicht bemerkte, der aus der Kapitänskajüte gekommen war und jetzt zum Bug der ALBANY unterwegs war. Die beiden Männer stießen zusammen, verloren auf dem schlingernden Schiff den Halt und purzelten übereinander.
Als der Auswanderer auf die Knie kam, erkannte er den Schiffszimmermann, den er erst bei wenigen Gelegenheiten erblickt hatte und dessen Namen er nicht kannte. Martin war schon darauf vorbereitet, ordentlich ausgeschimpft zu werden, weil er nicht darauf geachtet hatte, wohin er trat. Aber als der Zimmermann mit dem faltigen Gesicht und den rotgeäderten Augen den Mund öffnete, schlug ihm erst mal eine gehörige Schnapsfahne entgegen. Dann erging sich der Seemann in einen englischen Wortschwall, von dem Martin nur einige Brocken verstand. »Unheil«, »Tod« und »letzte Fahrt der ALBANY« war alles, was er verstand.
Der Weißhaarige zog sich an einer Werkzeugkiste hoch und torkelte mehr davon, als daß er ging. Das war kein normaler Seemannsgang, sondern garantiert eine Auswirkung seines reichlichen Alkoholgenusses.
Auch Martin kam wieder auf die Beine und setzte seinen Weg fort. Mehrmals wurden seine Füße von hohen Brechern umspült, die in der Schiffswand kein Hindernis sahen.
Piet Hansen hatte sich bereits auf das zunehmend schlechter werdende Wetter eingerichtet und trug sein Ölzeug, um gegen die Nässe gewappnet zu sein. Aus dem Bartgestrüpp lugte die unvermeidliche Pfeife hervor. Als das klobige, am Stiel zerkaute Ding heftig wackelte, bedeutete das wohl ein breites Grinsen des alten Seebären.
»Na, bist du eben mit dem Todgeweihten zusammengestoßen, Junge?«
»Wieso Todgeweihter?« fragte Martin und hielt sich an der großen Werkzeugkiste, die vor dem Steuerrad auf Deck verankert war, fest. »Mir schien der Mann eher betrunken zu sein. Er ist der Schiffszimmermann, nicht wahr?«
Hansen nickte. »Außerdem ist Jack Slocum das größte Schnapsfaß an Bord, jedenfalls das größte auf zwei Beinen. Ich habe das Gefühl, es wird von Fahrt zu Fahrt schlimmer mit ihm. Der Käpten hat das Gefühl wohl auch und ihn deshalb zu sich gerufen, um ihm eine ordentliche Standpauke zu halten. Ich glaube nicht, daß es viel helfen wird. Jack sieht die ALBANY bereits am Grund des Meeres liegen. Weshalb sollte er sich da noch Mühe geben, sie auf Vordermann zu bringen?«