»Weshalb hegt der Zimmermann diese Befürchtung?«
»Daß unser alter Dreimaster sinkt?«
»Ja.«
Der Steuermann hob seinen Blick zum Himmel. »Sieh mal da hinauf, Junge, dann hast du die Antwort auf deine Frage. Was sich da über unseren Köpfen zusammenbraut, ist nicht nur das schnapsgeborene Hirngespinst des alten Jack. Schätze, spätestens heute nacht wird es höllisch hergehen auf der guten alten Nordsee. Falls es uns tatsächlich erwischt, ist es vielleicht nicht mal das Schlechteste, so viel Schnaps und Rum wie möglich intus zu haben.«
»Wenn es so schlimm wird, weshalb steuert Kapitän Haskin nicht einen Hafen an, um den Sturm dort abzuwarten?«
»Hafen?« echote der Seebär und ließ vor Belustigung erneut seine Pfeife tanzen. »Du bist gut, Junge. Schau dich mal um. Siehst du irgendwo einen verdammten Hafen? Die See ist nicht die Lüneburger Heide, wo du mal eben so von der Landstraße abbiegen und zum nächsten Gehöft fahren kannst. Hier mußt du mit Winden und Strömungen rechnen. Selbst wenn Haskin wollte, ist es fraglich, ob wir noch rechtzeitig vor dem Sturm einen Hafen erreichen würden. Der Ärmelkanal liegt fast noch eine halbe Tagesfahrt vor uns. Um uns herum ist nichts als Wasser, nach allen Seiten hin. Außerdem müssen wir bald die letzten Segel einholen, wenn wir nicht wollen, daß der Sturm sie zerfetzt. Aber selbst wenn ein Hafen in der Nähe wäre, würde das Haskin nicht den Dreck unter unseren Fingernägeln kümmern.«
»Wieso nicht? Ist dem Kapitän das Schicksal seines Schiffes, seiner Mannschaft und der ihm anvertrauten Passagiere gleichgültig?«
»Dem? Dem ist sogar sein eigenes Leben gleichgültig.«
»Ich habe mich schon über Haskin gewundert. Man sieht ihn kaum an Bord. Die meiste Arbeit wird von diesem Maxwell erledigt, der anscheinend tun und lassen kann, was er will. Als wäre er der wahre Kapitän der ALBANY.«
»Damit liegst du gar nicht so falsch. Irgendwann, so hofft Maxwell zumindest, wird er sogar mal offiziell der Herr des Schiffes sein.«
»Wie kommt er darauf?«
»Haskins Alter läßt ihn das hoffen. Wenn der Käpten stirbt, erbt er den Kahn. Er ist nämlich Haskins Schwiegersohn.«
Der letzte Satz schlug bei Martin ein wie eine Kartätsche.
Jetzt wurde ihm klar, weshalb sich der Erste Steuermann so viel herausnehmen und darauf rechnen konnte, vom Kapitän gedeckt zu werden. Kein Wunder, daß Haskin bei der Gerichtsverhandlung alle Anschuldigungen gegen Maxwell beiseitegewischt hatte. Er hatte sie ganz einfach nicht hören wollen. Martin erkannte, daß sein unten im Schiff gefangener Freund von Anfang an verurteilt gewesen war.
»Dann war das Schiffsgericht also nichts als ein Schauspiel«, sagte er bitter.
»So kann man es nennen.«
»Und Sie machen bei so etwas mit, Piet?«
Der alte Seebär zuckte mit den Schultern. »Ich bin der Zweite Steuermann dieses Kahns. Es ist meine Pflicht, am Richtertisch zu sitzen. Außerdem habe ich mich bei der Urteilsfindung bemüht, das Beste für euch drei herauszuschlagen, das kannst du mir glauben. Maxwell hätte euch am liebsten alles Hab und Gut abgenommen und euch ins Meer geworfen. Leider konnte ich nur bei dir eine Strafminderung herausschlagen.«
»Was hatte das Narbengesicht denn mit mir vor?«
»Er wollte dich an den Mast binden und dir dreißig Hiebe mit der neunschwänzigen Katze aufbrummen, eigenhändig.«
»Keine angenehme Vorstellung«, murmelte Martin und bedankte sich dann bei Hansen für seinen Einsatz. »Aber wie kommt es, daß Kapitän Haskin die Dinge einfach so laufenläßt?«
»Als die ARLETTE unterging, hat er jegliche Lebensfreude verloren. Er ist wohl nur noch auf der Welt, weil der Sensenmann sich noch nicht dazu herabgelassen hat, ihn zu sich zu holen.«
»Die ARLETTE war ein Schiff?«
»Ja, ein prächtiges Dampfschiff, erzählt man sich wenigstens. Ich kenne die Geschichte nur aus Erzählungen. Josiah Haskin hatte sich in eine bildschöne Miss aus New
Orleans verliebt, deren Vater ein reicher Kaufmann französischer Abstammung war. Gegen den Widerstand der Eltern heiratete der ehrgeizige Seemann die schöne Arlette und kaufte mit ihrer Mitgift sein erstes eigenes Schiff, das er nach seiner Frau benannte. Zwar gilt es unter uns abergläubischen Seeleuten als unglücksbringend, ein Schiff umzutaufen, aber das störte ihn nicht. Genausowenig wie der Glaube, daß es einem Schiff Unglück bringt, wenn ständig eine Frau an Bord ist. Josiah Haskin war nicht nur ehrgeizig, sondern auch sehr verliebt. Er richtete seiner jungen Frau einen prächtigen Salon auf dem Dampfer ein, und sie machte jede Fahrt mit. Selbst als sie schwanger war und Haskin Zwillinge, einen Sohn und eine Tochter, gebar. Haskin hielt sich für den glücklichsten Mann auf allen Ozeanen, als das Unglück eines Nachts irgendwo im Golf von Mexiko über die ARLETTE hereinbrach. Der Kessel explodierte und verwandelte das Schiff innerhalb von Sekunden in eine Flammenhölle. Nur wenige Menschen überlebten, darunter Josiah Haskin und seine Tochter. Aber seine Frau und seinen Sohn behielt das gierige Meer für immer bei sich. Haskin gab seine Tochter in Pflege und heuerte wieder unter der Flagge eines anderen Reeders an, um das nötige Geld für ihre Ausbildung zu verdienen. Daß sich einmal ein liebender Mann ihrer annehmen könnte, hoffte er nicht, denn bei der Explosion war ihr ganzes Gesicht verbrannt worden; sie ist für ihr Lebtag entstellt. Haskin war immer noch ehrgeizig und brachte es nach einigen Jahren erneut zu einem eigenen Schiff, wenn es auch nur dieser alte Segler hier war. Aber das störte ihn nicht, hatte er sich doch nach dem Untergang der ARLETTE geschworen, nie wieder auf einem Dampfer zu fahren. Maxwell heuerte auf der ALBANY an, lernte eines Tages Haskins Tochter kennen und hielt recht bald um ihre Hand an. Wohl kaum aus Liebe, nur aus Berechnung. Der Käpten wird das gewußt haben, aber trotzdem froh gewesen sein, seine Tochter versorgt zu wissen. Maxwell hat nach wie vor in jedem Hafen mindestens eine Braut. Aber irgend etwas muß in Haskin nagen und ihm beständig sagen, daß sein Handeln nicht richtig war, daß er seine Tochter nicht glücklich gemacht hat. Denn seit der Hochzeit zieht er sich immer mehr in sich zurück, hockt meistens nur noch in seiner Kabine und ertränkt seinen Kummer in dem guten KentuckyWhiskey, den sich unsereiner nicht leisten kann. Außerdem hat er sich damals beim Untergang der ARLETTE die Schwindsucht geholt, als er mit seiner Tochter im Arm zur Küste schwamm. Der Husten wird immer schlimmer, aber er weigert sich, seinen Beruf aufzugeben und in ein Gebiet mit trockenem Klima zu ziehen. Ja, Junge, das ist die Geschichte von diesem verfluchten Kahn.«
Martin schwieg eine ganze Weile, während der er das Gehörte verarbeitete. Die ALBANY schwankte immer stärker hin und her. Einmal wäre er fast ausgerutscht und gestürzt, hätte der Seebär nicht rasch eine Hand nach ihm ausgestreckt und ihn festgehalten.
»Weshalb segeln Sie unter Haskin und Maxwell, Piet, wenn das so unangenehme Zeitgenossen sind?«
»Ich bin ein alter Seemann. Wo soll ich denn hin?«
»Sie könnten selbst Kapitän eines Schiff es sein.«
»Leider nicht, Junge. Es gibt gewisse Gründe, die das verhindern. Ähnliche Gründe wie die, die deinen Freund veranlaßt haben, sich als blinder Passagier an Bord zu schleichen. Ich konnte es ihm gut nachfühlen und habe vielleicht deshalb nichts verraten. Jedenfalls würde ich kein Kapitänspatent erhalten, zumal Piet Hansen nicht mein richtiger Name ist. Auf einem anderen Schiff, wo man ordentlich auf die Papiere schaut, könnte ich vielleicht nicht mal als Steuermann fahren. Deshalb bin ich hier auf der ALBANY, wo sich alle zusammenfinden, die vom Leben verdammt sind.«
Seine letzten Worte hörten sich so bitter an, daß es Martin für besser hielt, das Thema zu wechseln. »Wie geht es mit Jacob weiter, Piet? Wird Haskin wirklich einen Hafen anlaufen und ihn den Behörden übergeben?«
»Kann sein, kann auch nicht sein«, meinte der Steuermann und wiegte seinen Kopf überlegend hin und her. »Haskin und Maxwell versprechen sich wohl eine Prämie. Andererseits können sie nicht sicher damit rechnen. Einen Hafen anzusteuern kostet Zeit und Geld, denn je länger die Reise dauert, um so mehr muß für die Verpflegung der Passagiere ausgegeben werden. Vielleicht überlegt es sich der Alte noch. Aber das ist für deinen Freund nicht unbedingt ein Glücksfall, wenn er da unten in der dunklen, feuchten Höhle verrotten muß. Es sind noch viele Wochen nach New York. Das hält kaum ein Mensch aus.«