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Die wichtigste Arbeit war getan. Kapitän Haskin, der einen seiner seltenen guten Tage hatte, ordnete einen Tag der Ruhe und des Feierns an. Sogar der Speiseplan wurde auf eine Sonntagsration abgeändert, auch wenn das nicht allzuviel besagte.

An diesem Tag erwachte das Schiff, das seit jenem nächtlichen Sturm eine Art Lähmung befallen hatte, zu neuem Leben. Die Auswanderer strömten aus dem stets dämmrigen, nur von wenigen Laternen erhellten Zwischendeck herauf ans Tagesucht, lachten und unterhielten sich ausgelassen. Einige brachten Musikinstrumente mit, und bald drehten sich die Menschen, in ihren besten Sonntagsstaat oder die heimatliche

Tracht - was häufig dasselbe war - gekleidet, zu den Klängen ihrer Heimat im Tanz. Martin beteiligte sich daran, indem er eine Mundharmonika aus seinem Gepäck holte und ihr lustige Klänge entlockte.

Selbst der Kapitän ließ sich ausnahmsweise für längere Zeit an Deck blicken, lehnte sich an den Besanmast und rauchte eine dicke Zigarre. Jacob überlegte, ob er an alte Zeiten dachte, als das Leben für ihn noch schöne Seiten besessen hatte.

Auch Irene Sommer erschien an Deck, tanzte aber nicht, sondern hielt sich an der Reling fest und schaute aufs Meer, das jetzt so ruhig war wie zu Beginn der Reise. Sie trug ein weit geschnittenes, taubenblaues Kleid mit feinen Längsstreifen. Sicher nur ein einfaches Kleidungsstück, wie es einem Dienstmädchen anstand, aber die Trägerin verlieh ihm eine schlichte Eleganz, die auf Jacob viel beeindruckender wirkte als das glitzernde Ballkleid einer feinen Dame.

Er hatte seit seiner Freilassung mit ihr sprechen wollen, war aber über ein paar belanglose Worte nicht hinausgekommen, so sehr hatte ihn die Arbeit tagsüber in Anspruch genommen. Abends fand er sich regelmäßig mit Martin und ein paar Auswanderern im Heckladeraum auf dem Zwischendeck ein, wo Segel und Tauwerk aufbewahrt wurden. Hier erteilte Piet Hansen ihnen einen Englischunterricht nach Seemannsart, der sich gewaschen hatte. Wenn die lernwilligen Auswanderer in New York ankamen, würden sie eines bestimmt perfekt beherrschen: auf englisch zu fluchen.

Doch insgesamt empfand Jacob Hansens Unterricht als sehr gut. Von allen Auswanderern machte er die schnellsten Fortschritte, was zum einen wohl daran lag, daß er immer schon wißbegierig und von guter Auffassungsgabe gewesen war. Er hatte nie die Schule geschwänzt wie seine Freunde, wenn die Frühlingssonne das heimatliche Elbstedt in ein erstes warmes Bad tauchte. Zu groß war stets sein Hunger gewesen, mehr über die Welt und die Dinge, die in ihr vorgingen, zu erfahren. Zum anderen behielt er das Gelernte auch deshalb besonders gut, weil er sich im täglichen Umgang mit den zumeist amerikanischen Seeleuten darin übte. Seine Mitschüler dagegen hatten in der Regel nur Kontakt zu ihresgleichen, Auswanderern eben, weshalb bei ihnen nicht so viel hängenblieb.

»Sie tanzen nicht, Fräulein Sommer?« fragte Jacob, als er sich neben die junge Frau an die Reling stellte und fasziniert ihre hellen Locken betrachtete, die im Sonnenlicht glänzten wie frischer Bienenhonig.

»Ich möchte schon gern, aber es würde mir wohl nicht gut bekommen. Seit kurzem macht mir der Kleine sehr zu schaffen.«

Sie schaute an sich hinunter auf ihren Bauch, der sich trotz des weitgeschnittenen Kleides sichtbar wölbte. In den letzten Tagen schien das Kind kräftig gewachsen zu sein.

»Der Kleine?« wiederholte Jacob. »Woher wissen Sie, daß es ein Junge ist?«

»Bisher war er ziemlich still. Die Frauen unten sagen, dann muß es ein Junge sein. Nur Mädchen tanzen schon im Bauch, sagen sie. Außerdem hoffe ich, daß es ein Junge wird.«

»Warum?«

»Damit er seinem Vater ähnelt.« Und dann bedankte sie sich bei ihm für alles, was er für sie getan hatte. »Hätten Sie sich nicht so für mich eingesetzt, hätte der Kapitän mich bestimmt nicht an Bord bleiben lassen.«

»Ich hoffe, der richtige Vater ist mir nicht böse, daß ich mich für ihn ausgegeben habe.«

»Bestimmt nicht. Außerdem weiß ich nicht, ob er es jemals erfährt. Obwohl ich es sehr hoffe. Aber ob ich ihn finden werde in dem riesigen Land?«

»In Amerika?«

»Ja, irgendwo dort.«

»Sie wissen nicht, wo er sich aufhält?«

Irene schüttelte ihren Kopf, daß die Locken hin und her flogen.

Jacob dachte daran, daß ihrer beiden Schicksale einander ähnelten. Er suchte seine Familie und sie den Vater ihres Kindes irgendwo in einem fremden, unvorstellbar großen Land.

»Hat Ihr Mann Ihnen nicht geschrieben, wo er sich niedergelassen hat?«

»Nein. Wir. sind auch nicht verheiratet.«

Er sah, wie sich ihr Gesicht zunehmend umwölkte.

»Es tut mir leid, falls ich mit meinen Fragen zu weit gegangen bin, Fräulein Sommer. Ich wollte Sie nicht verletzen.«

Sie hob den Kopf, sah ihn an und zwang sich zu einem Lächeln. »Sagen Sie Irene zu mir, bitte. Wenn uns jemand hört, wird er kaum glauben, daß wir kurz vor unserer Heirat stehen. Und Sie sind nicht zu weit vorgedrungen. Wenn es einen Menschen auf diesem Schiff gibt, der das Recht hat, mir Fragen zu stellen, sind Sie das, Jacob. Sie haben mich nur an das erinnert, was ich tief in mir vergraben hatte. Vielleicht zu tief. Vielleicht ist es besser, wenn ich einmal mit jemandem darüber sprechen kann.«

Dann erzählte sie ihm ihre Geschichte.

Sie war ein Findelkind. Nonnen eines Klosters in der Nähe von Hamburg, zu dem ein Waisenhaus gehörte, fanden das erst wenige Wochen alte Kind eines Morgens vor ihrer Tür, wie Moses in einem Korb liegend. Nach einem langen, stürmischen Regen war es der erste friedliche Sommertag, weshalb sie das Kind Irene Sommer nannten. Jacob erfuhr, daß der Vorname Irene aus dem Griechischen kam und dort »Friede« bedeutete. Irene wuchs im Waisenhaus auf und erhielt eine Ausbildung zum Dienstmädchen.

Mit sechzehn Jahren begann sie ihren Dienst bei der Hamburger Reedersfamilie Dilger. Schon bald machte ihr Carl

Dilger, der Sohn des alten Wilhelm Dilger, Avancen. Irene gab sich zurückhaltend, weil sie nicht, wie so viele andere Dienstmägde, zur nach Belieben verfügbaren Mätresse ihrer Herrschaft werden wollte. Aber über die Jahre merkte sie, daß es dem jungen Mann trotz des gewaltigen Standesunterschiedes Ernst war. Ob Wilhelm Dilger erst hinter das Verhältnis kam, als Irene schwanger wurde, wußte sie nicht. Jedenfalls zeigte er sich erst dann empört, als Carl davon sprach, den dienstbaren Geist des Hauses heiraten zu wollen.

Als Carl sich durch nichts davon abbringen ließ, kam es zum schweren Zerwürfnis zwischen Vater und Sohn, in dessen Verlauf der Reeder sogar zum Notar ging, um Carl zu enterben. Carl, der bis dahin im Kontor seines Vaters gearbeitet hatte, kümmerte sich um eine neue Stelle, aber der alte Dilger sorgte dafür, daß ihm alle Türen in Hamburg verschlossen blieben. Kurz entschlossen buchte Carl eine Passage nach New York, um sich in Amerika, möglichst weit weg vom Einflußbereich seines Vaters, eine neue Existenz aufzubauen. Sobald er in gesicherten Verhältnissen lebte und über die nötigen Mittel verfügte, wollte er Irene Geld schicken und sie nachkommen lassen. Das war das letzte, was sie von ihrem Geliebten gehört hatte.

Als sein Sohn fort war, richteten sich Wilhelm Dilgers Haßgefühle auf die junge Frau, in deren Leib sein Enkelkind heranwuchs. Er setzte alles daran, die Geburt des Kindes zu verhindern, von der vagen Hoffnung beseelt, dann würde sein Sohn von den Heiratsplänen Abstand nehmen und reumütig nach Hamburg zurückkehren. Irene belauschte zufällig ein Gespräch, das der Reeder mit seinem Sekretär führte. Da Irene sich weigerte, das Kind abtreiben zu lassen, sollte der Sekretär ein paar dunkle Gestalten anheuern, die Irene in der Nacht gewaltsam zu einer Schaberin brachten, einer jener Frauen, die ihre gelernte Hebammenkunst dazu mißbrauchten, werdendes Leben zu zerstören.