»Warum, zum Kuckuck, soll denn niemand wissen, daß sie ein Kind erwartet?«
»Weil sie keinen Mann hat.«
»Und?«
»Ich wußte es bisher auch nicht, aber es gibt in Preußen ein Gesetz, das alleinstehenden Frauen, die ein Kind erwarten, die Auswanderung verbietet. Danach ist der Kapitän wohl verpflichtet, den nächsten Hafen anzusteuern und Fräulein Sommer dort an Land zu setzen, damit sie den preußischen Behörden übergeben werden kann.«
»Was für ein blödes Gesetz. Wofür soll das gut sein?«
Martin zuckte mit den Schultern, und die blauen Augen in dem breiten, sommersprossigen Gesicht blickten ratlos. »Frag mich etwas Einfacheres. Ich habe das Gesetz nicht gemacht. Vielleicht soll dem Vater nicht gegen seinen Willen das Kind entzogen werden.«
»Wer ist denn der Vater?«
»Du stellst mir aber auch Fragen, Jacob. Ich kenne Fräulein Sommer nur vom Sehen, habe bis heute keine fünf Worte mit ihr gewechselt.«
»Woher kennst du dich dann so gut in der Sache aus?«
»Piet Hansen hat es mir erzählt. Als Zweiter Steuermann der ALBANY gehört er zum Schiffsgericht.«
»Und wer noch?«
»Natürlich der Kapitän und dann der Erste Steuermann, Bob Maxwell.«
»Maxwell, das Narbengesicht?« rief Jacob empört. »Aber er hat doch bei dieser Schweinerei mitgemischt! Er wird kaum in der Lage sein, ein unvoreingenommenes Urteil über Fräulein Sommer und mich zu sprechen.«
»Ganz meine Meinung. Aber ich entscheide leider ebensowenig über die Zusammensetzung des Gerichts wie du.«
Jacob reichte seinem Freund die leere Suppenschale zurück und erhob sich ächzend, von einem äußerst unguten Gefühl beherrscht. Er erwartete wenig Gutes von der Gerichtsverhandlung, zu der er von Martin und den drei Seeleuten eskortiert wurde.
*
Diesmal erregte ihr Auftauchen auf dem Zwischendeck erheblich mehr Aufsehen. Es ging auf den Morgen zu, und viele der Auswanderer waren bereits auf den Beinen, froh, ihren engen Schlafstätten zu entfliehen.
Bärtige Männergesichter starrten ihn teilnahmslos an, Frauen blickten mitfühlend und Kinder der unterschiedlichsten Altersstufen neugierig. Während die Erwachsenen nur leise miteinander tuschelten, stellten die Kinder laut Fragen, wer der abgerissene Mann sei und wo er herkomme.
Tatsächlich mußte Jacob einen äußerst fragwürdigen Eindruck bei den Auswanderern hervorrufen, hatte er doch seit fünf Tagen keine Gelegenheit mehr zum Waschen und Rasieren gehabt.
Allerdings machte er später die Erfahrung, daß es auf dem Zwischendeck eine Menge Passagiere gab, die es mit der Sauberkeit nicht sehr genau nahmen. Eine Einstellungsweise, die im Verlauf der langen Seereise noch bittere Folgen nach sich ziehen sollte.
Es ging hinauf aufs Deck, wo die dort arbeitenden Seeleute Jacob ablehnend bis feindselig anstarrten. Er hatte sich mit einigen der Ihren angelegt. In ihren Augen hatte er sich damit automatisch zum Feind gemacht. So dachte er jedenfalls. Später sollte er erfahren, daß ihm einige Mannschaftsangehörige insgeheim zustimmten, denn Bob Maxwell war nicht bei allen beliebt.
Die ersten blaßrosa Sonnenstrahlen wurden durch grauschwarze Wolken gefiltert, die schwer am Himmel hingen. Nur undeutlich war deshalb die Sonnenscheibe im Osten erkennbar, die sich über einer Linie am Horizont erhob, wo Himmel und Meer miteinander verschmolzen. Oder war es gar das Festland, die Niederlande oder Frankreich, das sich dort kaum wahrnehmbar abzeichnete? Jacob konnte es nicht sagen.
Das Wetter schien weniger gut zu sein als an den bisherigen Tagen, und die See war aufgewühlter. Die ALBANY schlingerte im mächtigen Wellengang.
Schon drangen die ersten Auswanderer an Deck, der kleinen Gruppe um Jacob hinterher, um an die Reling zu stürzen und dort dem Übel freien Lauf zu lassen. Ein paar schafften es nicht einmal so weit.
Der Seemann, der Jacob losgeschnitten und seine Wunde ausgebrannt hatte, machte eine Bemerkung, und seine Gefährten lachten laut.
»Was hat er gesagt?« fragte der junge Zimmermann.
»Daß sie sich, wenn es richtig losgeht, die Seele aus dem Leib kotzen werden«, übersetzte Martin. »Dann wird es an der Reling so voll werden, daß sie sich gegenseitig anspucken. Jedenfalls habe ich ihn so verstanden.«
Die Seeleute drängten sie weiter, dem Heck der ALBANY zu.
Jacob drehte sich im Gehen um und sah nach dem Ruderboot, unter dem er so lange gelegen hatte. Sollte alles umsonst gewesen sein? Noch waren sie im Ärmelkanal, und es mußte dem Kapitän ein leichtes sein, eine der Küsten anzusteuern, um Jacob den Behörden zu übergeben und das auf ihn ausgesetzte Kopfgeld zu kassieren. Er hängte seine Hoffnung an dem Gedanken auf, daß der Kapitän nicht wußte, wer er war und daß hundert Taler auf seine Ergreifung ausgelobt waren.
Dann fiel ihm etwas anderes ein. »Meine Tasche, Martin! Wo sind meine Sachen?«
»Ich wollte sie holen, aber da kamen vom Kapitän gesandte Männer und haben sie konfisziert.«
»Dann kennt der Kapitän jetzt meine Papiere und meinen wahren Namen.«
Martin nickte betrübt. »Ja, leider.«
Aber vielleicht weiß er trotzdem nichts von der Belohnung, machte sich Jacob Mut.
Die Bark schlingerte so stark, daß Jacob stolperte und hingestürzt wäre, hätte er sich nicht im letzten Augenblick an dem Luftzugrohr, das hinter dem Großmast aus den Planken ragte und das Zwischendeck mit Frischluft versorgte, festgehalten. Jetzt ahmte er den breitbeinigen Gang der Seeleute nach und beugte sich gleichzeitig, wie sie, leicht nach vorn, um sich der steifen Brise entgegenzustemmen, die von achtern kam. Mit diesem typischen Seemannsgang stakste er seiner Verhandlung entgegen.
*
Am Heck, noch hinter dem Platz des Steuermanns, ging es wieder unter Deck zur Kapitänskajüte, vor der zwei mit Karabinern bewaffnete Seeleute Posten bezogen hatte. Offenbar wollte Kapitän Haskin kein Risiko eingehen und einer Flucht seines Gefangenen vorbeugen.
Aber wohin hätte er fliehen sollen, mitten auf See? Jacob, an der Elbe geboren und gleichsam mit Elbewasser getauft, konnte recht gut schwimmen, aber bis zum Festland hätte er es nie und nimmer geschafft. Er wäre abgesoffen wie ein Stein,
hätten ihn nicht vorher die Haie geholt.
In der großen, für ein Schiff äußerst prächtig ausgestatteten Kapitänskajüte standen zwei weitere Bewaffnete, um die Tür von innen zu bewachen. Das konnte nicht alles dazu gedacht sein, Jacob von einer möglichen Flucht abzuhalten. Vielleicht befürchtete der Kapitän, die Auswanderer könnten aufbegehren, um Jacob zu helfen.
Aber das hielt der Zimmermann selbst für nicht sehr wahrscheinlich. Die Menschen kannten ihn nicht - mit Ausnahme von Martin - und hatten keinen Grund, sich für ihn einzusetzen.
Staunend glitten Jacobs Augen über die Wände, die den Eindruck erweckten, die Kajüte gehöre gar nicht zum restlichen Schiff. Gegen die Enge und Schlichtheit des Zwischendecks war das hier der reinste Palast. Die Wände waren mit Bücherregalen und Bildern bedeckt, letztere ausnahmslos mit Motiven aus der Seefahrt. Vor dem großen Fenster hingen Vorhänge aus feinstem Samt, an den Rändern mit Goldborten besetzt. Das Licht kam aus einem Kronleuchter, der, wäre er größer gewesen, einem Festsaal zur Ehre gereicht hätte.
Alle schienen nur auf Jacob gewartet zu haben. Hinter dem großen Tisch in der Mitte des Raumes saßen drei Männer, von denen Jacob nur zwei kannte.
Der außergewöhnlich dünne Mann mit dem Gesicht eines Totenkopfes, der in der Mitte saß, mußte Josiah Haskin sein, der amerikanische Kapitän der ALBANY und zugleich ihr Eigner. Seine Gesichtsfarbe war sehr blaß, und die Haut spannte sich so stark über den Knochen, daß diese durchzuscheinen schienen; seine Haut wirkte wie Pergament. Noch niemals zuvor hatte Jacob bei einem Mann derart tiefliegende Augen gesehen. Die Lippen des Kapitäns wirkten so schmal wie die dünne Linie des Horizonts, die er eben in der Ferne gesehen hatte. Hin und wieder verschwanden sie hinter einem weißen, spitzenbesetzten Taschentuch, wenn Haskin ein krampfartiger Husten befiel. Seine Totenaugen blickten Jacob ausdruckslos an.