»Reißen Sie sich zusammen!« schnarrte Haskin. »Spielen Sie kein Theater, sondern beantworten Sie meine Frage! Befindet sich der Vater Ihres Kindes an Bord dieses Schiffes?«
Die Bilder stürzten auf Jacob ein. Kapitän Haskin, der lauernd wie eine Spinne im Netz an dem großen Tisch saß und die Frau mit seinem Verhör an den Rand des Zusammenbruchs trieb. Bob Maxwell, der sein höhnisches Grinsen und seine Befriedigung über Irene Sommers Demütigung kaum zu verbergen versuchte. Und die junge Frau selbst, ein Häufchen Elend jetzt, aber immer noch schön und mit einer Art natürlicher Würde ausgestattet, die den Angehörigen des Schiffsgerichts - Piet Hansen vielleicht ausgenommen - völlig abging. Jacob spürte förmlich, welcher Kampf im Innern der Frau tobte. Sie schien am Ende ihrer Kräfte zu sein.
»Befindet sich der Kindsvater an Bord der ALBANY?« wiederholte der Kapitän, scharf wie ein Rasiermesser, seine Frage.
»Ja«, sagte Jacob laut, um der Quälerei ein Ende zu bereiten.
Er stand jetzt wieder im Mittelpunkt des Interesses. Alle Blicke drückten Verwunderung aus, nicht nur die der Richter, sondern auch die von Irene Sommer und Martin. Die Angehörigen des Schiffsgerichtes bemerkten das Erstaunen der Frau zum Glück nicht, weil sie sich ganz auf Jacob konzentrierten.
»Sie kennen den Vater des Kindes, Angeklagter Adler?« fragte der Kapitän.
»Ja.«
»Und er ist an Bord der ALBANY?«
»Ja.«
»Wo hält er sich auf?«
»Hier«, sagte Jacob und trat einen Schritt vor. »Er steht vor Ihnen.«
Die Frau schluckte, und Martin mußte sich förmlich dazu zwingen, seinen weit offenstehenden Mund zu schließen. Beide wußten, daß Jacob gelogen hatte.
Sein Vater hatte ihn zwar zur Ehrlichkeit erzogen, aber hier galten solche Regeln nicht. Vor einem Gericht, das nur eine Farce war und dem der Hauptübeltäter angehörte, mußte jedes Mittel erlaubt sein.
Außerdem ging es nicht an, Gericht oder nicht, eine schwangere Frau so zu quälen. Das vorhin bereits empfundene Gefühl, die Frau vor allem Schlechten beschützen zu müssen, war in Jacob übermächtig geworden und hatte ihn zu dieser Aussage gedrängt.
Wieder gelang es dem Kapitän verhältnismäßig schnell, sich von seiner Überraschung zu erholen. »Warum haben Sie das nicht eher gesagt, Angeklagter?«
»Weil Sie mich nicht danach gefragt haben, Herr Kapitän. Sie haben selbst gesagt, daß wir nur antworten sollen, wenn wir gefragt werden.«
Das schmale, bleiche Gesicht des Kapitäns zeigte ausnahmsweise so etwas wie eine menschliche Regung. Wenn Jacob diese Regung richtig deutete, spiegelte sie Haskins Mißfallen über seine Äußerung wider.
»Warum reisen Sie nicht zusammen mit Ihrer Frau?« fuhr der Kapitän fort. »Sind Sie überhaupt verheiratet?«
»Noch nicht«, antwortete Jacob. Ihm fiel ein, daß er die junge Frau in die Gefahr gebracht hatte, ebenfalls beschuldigt zu werden, einem blinden Passagier beigestanden zu haben. »Irene wußte bis gestern nacht nicht, daß ich an Bord bin.«
Haskin wurde sichtlich von Minute zu Minute ungehaltener. »Wozu sollte dieses ganze Versteckspiel gut sein, Mann?«
Jacob beschloß, daß er jetzt, wo er einmal damit angefangen hatte, ruhig weiterlügen konnte. »Irenes Vater wollte nicht, daß wir heiraten. Wir haben uns gestritten und schließlich geprügelt.« Er hob seine großen Hände und ballte sie zu Fäusten. »Ich schätze, er hat ordentlich was dabei abbekommen. Jedenfalls hat er mich wegen Körperverletzung bei der Polizei angezeigt. Irene und ich wollten uns in Hamburg treffen, dort heiraten und uns nach Amerika einschiffen. Aber ihr Vater reiste uns nach, spürte mich auf und verriet mich an die Polizei. Deshalb habe ich Bult einen falschen Namen genannt und mich als blinder Passagier an Bord schleichen müssen.«
Ein Grinsen zog über Maxwells Gesicht und ließ seine Messernarbe auf der linken Wange ein Stück wandern. »Wenn Sie bei Bult gebucht haben, weshalb haben Sie sich dann nicht ordentlich unter Ihrem falschen Namen eingeschifft? Und weshalb stehen Sie dann nicht unter Ihrem falschen Namen auf der Passagierliste?«
Haskin nickte zustimmend und sagte: »Beantworten Sie die Frage, Angeklagter!«
»Bult hat mich verraten. Dieser Winkelagent kam nachts in Begleitung von Polizisten in mein Quartier, um mich festzunehmen. Ich konnte in letzter Sekunde entwischen. Ich nehme an, in Erwartung meiner Verhaftung hat der Kerl meine Passage anderweitig verkauft.«
Zum erstenmal sah Jacob so etwas wie ein Grinsen auf Haskins Totengesicht. »So was sähe Bult ähnlich. Der Mann ist mit allen Wassern gewaschen.«
Jacob war zufrieden, daß sich seine gerade erfundene Geschichte für den Kapitän so plausibel anhörte. Andererseits lag sie gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt. Nur die Vorgeschichte stimmte nicht. Aber Jacob hatte dem Kapitän und Maxwell nicht auf die Nase binden wollen, daß er wegen versuchten Mordes gesucht wurde. Das hätte sie nur eine hohe Belohnung, die ja tatsächlich auf ihn ausgesetzt war, wittern lassen.
Haskin rieb sein spitzes Kinn und sah dann wieder die junge Frau an, die sich einigermaßen beruhigt und Jacobs Worten mit ebensolchem Erstaunen gelauscht hatte wie alle übrigen Anwesenden. Jacob schickte ein stilles Stoßgebet gen Himmel, daß sie sich ihre Überraschung nicht anmerken ließ. Dann wäre alles vergeblich gewesen.
»Stimmt es, daß der Angeklagte Adler der Vater Ihres Kindes ist?« wollte Haskin wissen.
Irene Sommer schaute auf, sah in die Gesichter der drei Richter und dann in das von Jacob. Als sei sie sich nicht sicher, ob sie dessen Spiel mitmachen sollte.
»Angeklagte«, sagte Haskin forsch und zeigte auf Jacob, »ist dieser Mann der Vater Ihres Kindes?«
»Ja«, sagte Irene leise. »Er ist es.«
*
Kapitän Haskin hatte die drei Angeklagten unter der Aufsicht der bewaffneten Seeleute vor die Kajüte geschickt, um sich mit Bob Maxwell und Piet Hansen über das Urteil zu beraten. Auch die beiden als Zeugen geladenen Matrosen, die Jacob lieber - wie auch ihren Anführer Maxwell - auf der Seite der Angeklagten gesehen hätte, waren hinausgeschickt worden und hatten sich davongemacht. Wahrscheinlich hatte Haskin ihnen befohlen, ihren Dienst wiederaufzunehmen, da sie nicht mehr gebraucht wurden.
Martin zog Jacob ein Stück beiseite und raunte: »Hör mal, Freund, in was reitest du dich da rein? Du willst mir doch nicht weismachen, daß du tatsächlich der Vater bist?«
»Laß uns später darüber sprechen«, flüsterte Jacob und blickte in die Richtung der vier Bewaffneten. »Wenn keine überflüssigen Ohren dabeisind.«
»Diese Ohren verstehen wohl kaum unsere Sprache. Außerdem traue ich diesem sogenannten Gericht nicht. Ich bin mir nicht so ganz sicher, ob es für uns ein Später gibt.«
»Warten wir es ab«, meinte Jacob achselzuckend, als die Kajütentür auch schon wieder geöffnet wurde.
Piet Hansen befahl den Angeklagten, einzutreten, und nahm selbst wieder neben dem Kapitän am Tisch Platz. Bewacht von zwei Matrosen, traten Jacob, Martin und Irene Sommer wieder in die komfortable Kajüte.
Haskin stand auf und legte die rechte Hand auf das Seerecht. »Das Schiffsgericht der ALBANY hat sein Urteil gefällt. Der Angeklagte Jacob Adler hat sich schuldig gemacht des Erschleichens einer Schiffspassage, da er nicht im Besitz eines gültigen Reisevertrags ist und er sich ohne Wissen der Schiffsbesatzung an Bord begeben hat. Außerdem hat er sich der Meuterei schuldig gemacht, als er den Ersten Steuermann und seine Begleitung tätlich angriff. Der Angeklagte wird darum in Ketten gelegt, bis die ALBANY den nächstgelegenen Hafen angelaufen hat. Dort wird er den Behörden übergeben. Da er der Vater des Kindes ist, das im Leib der Angeklagten Irene Sommer heranwächst, und da nach preußischem Gesetz alleinstehenden Müttern das Auswandern verboten ist, muß die Angeklagte mit ihm zusammen das Schiff verlassen. Auch sie wird den Behörden zur weiteren Entscheidung über ihr Schicksal übergeben. Die Vergehen des Angeklagten Martin Bauer wiegen weniger schwer, besonders, da er sich nicht tätlich gegen die Schiffsbesatzung gewandt hat. Er wird deshalb zur Zahlung einer Geldstrafe in Höhe von zehn US-Dollar verurteilt. Nehmen Sie das Urteil an, Angeklagter Bauer?«