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Irenes Schlafstelle lag im hinteren Teil des Zwischendecks, wo die wenigen alleinstehenden Frauen untergebracht waren. Neugierig blickten die anderen Auswanderinnen sie an. Inzwischen hatte wohl die Runde gemacht, in welchem Zustand sie sich befand.

Als Martin sich verabschiedete, sagte die junge Frau traurig: »Es tut mir so leid, daß Ihr Freund meinetwegen in Schwierigkeiten gekommen ist.«

Ihr Begleiter schüttelte den Kopf. »Sie müssen sich keine Vorwürfe machen. Die Schwierigkeiten hätte er sowieso bekommen, auf diesem Schiff bestimmt. Er hätte sich nicht während der ganzen Überfahrt versteckt halten können.«

»Aber wenn wir weit draußen auf dem Atlantik gewesen wären, hätte der Kapitän ihn nicht in einem Hafen absetzen können.«

»Wer weiß, was Haskin und Maxwell dann mit ihm angestellt hätten. Vielleicht hätten sie ihn in einem Ruderboot auf dem Meer zurückgelassen.«

Irene sah ihn mit einer Mischung aus Furcht und Zweifel an. »Glauben Sie das wirklich?«

»Ich habe das Gefühl, auf der ALBANY fährt der Teufel mit. Und dem Teufel ist alles zuzutrauen.« Martin wandte sich zum Gehen, sagte dann aber noch: »Wenn Sie Hilfe brauchen, wenden Sie sich an mich. Meine Schlafstelle ist ganz vorn, vor dem Buggepäckraum.«

»Bei den Junggesellen.«

»Ja, genau.«

Lustlos zwängte sich Martin durchs enge Zwischendeck zu seiner Schlafstelle. Von der Geräumigkeit der Kapitänskajüte war hier unten keine Spur, von ihrem Prunk ganz zu schweigen. Jeder Zoll Raum war ausgenutzt, und zwischen den Schlafstellen führte nur ein schmaler Gang hindurch, der gerade mal Platz für eine Person bot.

Das Schiff erwachte zum allmorgendlichen Leben. Martin mußte oft stehenbleiben und warten, als er durch den großen Mittelteil des Zwischendecks ging, wo die Familien schliefen. Mütter standen im Gang und waren damit beschäftigt, ihren Kindern die Läuse, die es hier in Hülle und Fülle gab, aus den Haaren zu kämmen. Daneben standen oder knieten die Väter und durchsuchten die Schlafstellen nach den nicht minder zahlreich vertretenen Wanzen, die sich in der Nacht vom Blut der Auswanderer genährt hatten.

Martin überlegte es sich anders und verließ das Zwischendeck, als er den Aufgang erreichte. Unten war es so voll und stickig, daß er es als wenig angenehm empfand, länger als unbedingt nötig hier zu verweilen. Die Masse der Menschen ließ ihm als sicher erscheinen, daß sich Kapitän Haskin um des Profits willen nicht an die vorgeschriebenen Raummaße, die jedem Auswanderer wenigstens ein Minimum an Bewegungsfreiheit garantieren sollten, gehalten hatte.

Die Ausdünstungen der Menschen, von denen viele die Reinlichkeit nicht gepachtet hatten, verdichteten sich zu einer Luft, die kaum noch diesen Namen verdiente und fast mit dem Messer geschnitten werden konnte. Für das gesamte Zwischendeck, das sich fast über die ganze Schiffslänge erstreckte, gab es ein einziges Luftzugrohr. Zusätzliche Luft kam durch die Luke des Aufgangs herein, die meistens offenstand. Aber es reichte auch zusammen nicht aus, um für eine einigermaßen erträgliche Luft zu sorgen.

Erst hatte Martin sein Eßgeschirr von der Bettstelle holen wollen, um sich in die lange Schlange der Auswanderer einzureihen, die oben auf Deck nach Frühstück und Kaffee anstanden. Aber dann verzichtete er angesichts seines mangelnden Appetits darauf.

Früher hatte er nie darüber klagen können, keinen Appetit zu haben. Ganz im Gegenteil, sein Vater hatte manchmal im Scherz gesagt, Martin würde ihm noch einmal das Dach über dem Kopf wegfuttern.

Aber auf dem Schiff war alles anders geworden. Der Kaffee war dünn, als bestehe er zu neunundneunzig Prozent aus Wasser, was sicher nicht ganz falsch gedacht war. Der Zwieback war so hart, daß er mit dem Hammer oder dem Stiefelabsatz zerteilt werden mußte. Schinken und Fleisch aß man am besten mit geschlossenen Augen, oder man unterzog sich der mühevollen Arbeit, Dutzende von Würmern herauszupulen.

Martin hatte gehört, daß es auf Auswandererschiffen, die Amerika von anderen Ländern aus ansteuerten, üblich war, daß sich die Reisenden selbst verpflegten. Er beneidete sie darum, vor solch schlechter Verpflegung, wie sie an Bord der ALBANY ausgeteilt wurde, bewahrt zu sein. Kapitän Haskin schien nicht nur durch eine Überladung an Passagieren Geld scheffeln zu wollen, sondern auch durch das Sparen an ordentlichen Mahlzeiten.

Martin aß nicht mehr aus Herzenslust, sondern nur noch aus Pflichtgefühl seinem Körper gegenüber. Dieses Pflichtgefühl stellte er heute morgen hintenan. Nicht nur seine schlechte Gefühlslage war dafür verantwortlich, sondern auch das beständig stärker werdende Schlingern der Bark. Bis jetzt war er von der Seekrankheit verschont worden, und er wollte sein Schicksal nicht herausfordern.

Er war gerade auf Deck getreten, als er auf Bob Maxwell und die beiden Bewaffneten stieß, die Jacob abgeführt hatten.

»Ich suche Sie schon überall, Bauer«, sagte der Erste Steuermann. »Sie wollten sich doch nicht etwa Ihrer Zahlungsverpflichtung entziehen?«

»Na, klar doch! Ich hatte mir gerade überlegt, ob ich nicht über Bord springen und nach New York schwimmen soll, damit ich die zehn Dollar spare.«

Maxwells schon vorher griesgrämiges Gesicht verdunkelte sich noch mehr. »Treiben Sie mit mir keine dummen Scherze, Mann! Her mit dem Geld!«

Martin zog seine lederne Börse aus der Innentasche seiner Jacke und holte zehn Dollarmünzen heraus, was seine Barschaft erheblich zusammenschmelzen ließ. Maxwell wollte ihm das Geld aus der Hand nehmen, aber der Deutsche zog schnell seine Rechte zurück und ballte sie um die Münzen zur Faust.

»Was soll das bedeuten?« fragte der narbengesichtige Steuermann scharf, und die Karabiner seiner Begleiter ruckten hoch, zielten jetzt auf Martin. »Sie wollen also doch nicht bezahlen!«

»Doch, ich werde meine Strafe bezahlen, aber nur gegen Quittung.«

»Gegen Quittung?«

»Ganz recht. Das ist ein Papier, auf dem Sie mir den Empfang des Geldes bestätigen.«

»Ich weiß, was eine Quittung ist!«

»Na, bestens. Dann stellen Sie mir eine aus, und Sie bekommen das Geld.«

»Das Ausstellen von Quittungen ist an Bord der ALBANY nicht üblich.«

»Das interessiert mich nicht. Wenn ich Ihnen Geld aushändige, habe ich ein Anrecht auf eine Quittung. Ich habe keine Lust, meine Strafe zweimal zu bezahlen.«

Maxwells Augen verengten sich zu Schlitzen. »Soll das heißen, daß Sie mir mißtrauen?«

»Ich traue Ihnen nicht weiter, als man bei diesem Wetter gegen den Wind spucken kann.«

»Das ist eine Beleidigung!« fuhr der Steuermann den Deutschen an. »Ich werde Sie wegen Meuterei in Eisen legen lassen!«

»Aber erst nach einer ordentlichen Verhandlung des Schiffsgerichtes, nehme ich an«, erwiderte Martin mit bitterem Hohn. Der in ihm aufgestaute Ärger verschaffte sich jetzt Luft. »Außerdem war das keine Beleidigung, sondern nur die

Wahrheit. Es ist ganz allein meine Angelegenheit, zu wem ich Vertrauen habe und zu wem nicht.«

»Schluß mit dem Gerede!« zischte Maxwell. »Geben Sie mir endlich das Geld!«

»Gern«, sagte Martin und schenkte seinem Gegenüber ein falsches Lächeln. »Sobald Sie mir eine Quittung ausstellen.«

Für ein paar Sekunden stand der Steuermann unentschlossen da. Wieder zog das Zucken, das seine Messernarbe tanzen ließ, über sein Gesicht. Wahrscheinlich überlegte er, ob er seine Drohung, den Deutschen in Eisen legen zu lassen, wahr machen sollte.

Als sein Blick auf die Menge der Auswanderer fiel, die sich neugierig um die Gruppe versammelt hatte, entschied er sich anders, friemelte Block und Bleistift aus seinen Taschen und stellte die Quittung aus, die Martin verlangt hatte. Im Gegenzug erhielt er die zehn Dollar.