Malfurion traf eine Entscheidung. Er hatte immer noch Kontakt zu den anderen. Versuchte immer noch, sie zu führen. Die Anstrengung war gewaltig, doch der Erzdruide wusste, dass er noch mehr tun musste.
Mit einem Knurren warnte er Tyrande, dass er gleich erneut seine Gestalt wechseln würde. Die Hohepriesterin sprang gekonnt herab, während sie immer noch die Gleve benutzte, um jeden Ast abzuschlagen, der nach ihnen griff.
Malfurion blickte nun nach Azeroth und in den Smaragdgrünen Traum hinein. Er musste dieses Mal tiefer einsinken, das galt für die beiden Reiche wie auch für ihn selbst.
Der Himmel brauste. Er brauste nicht nur über ihnen, sondern überall in Azeroth, überall im Smaragdgrünen Traum/Albtraum. Malfurion strengte sich noch mehr an und achtete nicht darauf.
Doch sein Angriff richtete sich nicht gegen den Feind, zumindest nicht direkt. Stattdessen konzentrierte sich Malfurion auf diejenigen, die er am meisten brauchte.
Broll... Thura...
Dieses Mal konnte er sie spüren. Dieses Mal konnte er fühlen, wie der Druide sich dagegen wehrte, vom Albtraum überwältigt zu werden.
Shan... do..., ertönte die schwache, aber entschlossene Antwort.
Jetzt ist es an der Zeit... Die Werkzeuge sind an Ort und Stelle... der Ast, den ich Euch gegeben habe... Ich verrate Euch die Wahrheit über seinen Ursprung und was wir tun müssen.
Ich bin... bereit...
Mehr musste Malfurion nicht hören. Über das stete Rauschen hinweg rief er Tyrande zu: „Rettet Euch! Ich muss es jetzt beenden! Ich kann nicht versprechen...“
„Nein! Wir leben und sterben gemeinsam!“
Er wollte nicht streiten. Der Erzdruide ging ein letztes Mal in sich.
Und plötzlich... schwoll der Sturm wieder an.
29
Die zwei Bäume
Broll Bärenfell hatte mit dem Tod gerechnet. Doch irgendwie war es ihm gelungen, den Angriff auf seinen Körper und die noch heimtückischere Attacke auf seinen Geist abzuwehren. Der Albtraum suchte ihn, denn er war einer von Malfurions wichtigsten Verbündeten. Er hörte Schreie, und in seinen Gedanken entstand erneut das Bild seiner sterbenden Tochter und seiner Schuld an ihrem Tod. Es war ein wohlgezielter Angriff des Albtraums, denn Anessa war schon immer Brolls wunder Punkt gewesen.
Doch das war vorbei. Broll kannte die Schrecken des Albtraums und verfluchte sich dafür, dass er durch ihren Tod fast dem Albtraum zum Opfer gefallen wäre.
Anessa hätte nicht gewollt, dass ihr Vater aus Kummer um sie starb. Er ehrte ihr Andenken besser, wenn er den Kampf aufnahm.
Das war Broll jedoch erst richtig bewusst geworden, als er miterleben musste, wie so viele andere um ihre verlorenen Angehörigen trauerten – und wie sie litten. Der Albtraum war ein Meister darin, die Gedanken seiner Opfer zu verwirren und Liebe in Folter zu verwandeln.
Der Druide warf eine Handvoll Pulver auf seine Feinde. Er hatte es aus Pflanzen gemischt, die für ihre feurigen Eigenschaften bekannt waren. Als es seine finsteren Gegner traf, zischte es. Die Schatten verbrannten und heulten gequält auf. Broll blickte zu Thura und erwartete das Schlimmste. Doch die Orcfrau hockte neben ihm, ihre Augen waren geschlossen, ansonsten ging es ihr gut.
„Ich habe einen Schwur geleistet...“, sagte sie. „Und ich werde ihn erfüllen...“
Broll vertrieb den Nebel, und zum ersten Mal sah er, dass hier nicht nur die Axt lag, sondern auch noch ein anderes, merkwürdigeres Ding. Einst war es lebendig gewesen, und derjenige, der es an diesen Ort gebracht hatte, hatte es mit Sorgfalt eingepflanzt. Trotzdem hatte er nicht damit gerechnet, es erblühen zu sehen.
Es war ein Ast. Ein verderbtes Ding, das Broll augenblicklich erkannte. Er begriff auch, warum es hier platziert worden war. Ihr Plan hatte immer noch eine Chance.
Und während er darüber nachdachte, erreichte ihn der Sturm. Aber Broll spürte keine Furcht, nicht einmal Besorgnis. Er wusste, woher der Wind kam und dass er zu ihrer aller Schutz diente.
Der Druide packte den Ast. Verglichen mit dem Baum, dem er ursprünglich entstammte – um dann in Teldrassil eingepflanzt zu werden -, war er ein Nichts. Tot.
Doch es steckte immer noch die Essenz des Albtraumlords darin. „Thura! Ihr müsst Euch die Axt im selben Moment greifen, wenn ich zuschlage!“
Die Kriegerin verstand ihn sofort. Dann wirkte Broll einen schrecklichen Zauber. Wer stark genug war, konnte aus scheinbar toten Pflanzen, selbst Bäumen, noch etwas Leben herausholen. Für eine echte Pflanze hätte Broll zweifellos alles getan, obwohl er seine Grenzen kannte. Nun jedoch versuchte er, etwas Monströses wiederzubeleben. Sein Shan’do hatte ihm die ganze Wahrheit über den Ast und den Baum mitgeteilt. Alles über seine Herkunft. Broll konnte selbst noch in diesem kleinen Stück die Falschheit spüren, die dämonische Essenz. Der Ast war nichts Natürliches mehr, er war ein an der Natur begangener Gewaltakt.
Doch als er seinen Zauber begann, spürte Broll das andere, ältere Übel, vor dem Malfurion ihn auch gewarnt hatte. Dieses Böse hatte seinen eigenen teuflischen Einfluss in die Erschaffung des Albtraumlords einfließen lassen.
Der Funke, so glaubte Broll, war da. Er machte weiter, auch wenn die Falschheit sich noch verstärkte.
Der Ast bebte, kämpfte gegen seine Umklammerung an.
„Jetzt!“, rief der Druide und hob den Ast hoch.
Thura griff nach der Axt, die immer noch von einem Leuchten erfüllt war, das sowohl ihrer eigenen guten Kraft als auch den finsteren Mächten des Albtraums entsprang.
Die Hand der Orcfrau und der Ast begannen zu leuchten, sobald sie sich berührten. Mehr brauchten die Verteidiger nicht. Der Albtraum hatte keine Kontrolle mehr über die Waffe. Cenarius hatte diese reine Axt erschaffen, und Brox hatte sie durch seine Taten noch verstärkt.
Und die von Malfurion erwählte Thura war eine würdige Nachfolgerin. Sie nahm die Waffe auf. Broll warf den Ast weg, der ohne den Zauber nicht überleben konnte. Der Druide verwandelte sich in eine Raubkatze.
Thura sprang auf seinen Rücken. Er trug sie mit sich. Der Schatten des Baumes streckte sich, um sie einzuholen. Doch der Sturm setzte ihm schwer zu, zerrte an den Ästen und blies den Nebel fort. Blitze verbrannten die Schattenkreaturen und setzten sogar einige der Äste in Brand.
Broll wunderte sich über den Sturm. Er hatte schon miterlebt, wie bei langen Druidenversammlungen Stürme erschaffen worden waren, wenn Regen benötigt wurde. Doch keiner war so gewaltig wie dieser gewesen.
Dafür müssen Malfurion und alle Druiden zusammengearbeitet haben!
Wie auch immer sein Shan’do den Sturm erschaffen hatte, er ermöglichte Broll und Thura, den Schattenbaum zu erreichen. Die feindliche Silhouette erhob sich über ihnen...
Eine große Hand drosch auf sie beide ein. Knorre zerrte an der reglosen Thura, die immer noch die Axt umklammert hielt.
„Der Albtraum wird alles übernehmen!“, brüllte das korrumpierte Urtum.
Broll überschlug sich und blieb liegen. Er verwandelte sich wieder in seine normale Gestalt. Mit vor Schmerzen gefletschten Zähnen sprach er einen Zauber.
Das Urtum war genauso sehr Pflanze wie Tier. Selbst korrumpiert war es mit einem riesigen, wenngleich nun bösartigen Bewuchs überzogen. Und dieser Bewuchs war für einen erfahrenen Druiden beeinflussbar.
Die verkrüppelten Auswüchse wurden dicker, Ranken wanden sich um Knorres Körper und wickelten die Gliedmaßen des Urtums binnen Sekunden ein. Auch die Hand, die Thura umklammerte, wurde davon zusammengezogen, sodass Knorre sie öffnen musste.
Die Orcfrau fiel zu Boden und landete auf den Füßen. Sie wankte, doch dann fing sie sich.
Knorre taumelte. Einige der Ranken, die seine Beine und einen Arm fesselten, zerrissen. Erneut griff er nach Thura...
Grunzend verstärkte Broll den Zauber. Die Ranken wurden stärker und dicker.
Kurz bevor die Klauen die Orcfrau erneut zu fassen bekamen, fesselten die Ranken das korrumpierte Urtum derart nachhaltig, dass es sich nicht mehr bewegen konnte. Broll ließ nicht nach in seinem Bemühen. Die Ranken wuchsen weiter und zogen sich immer enger zusammen.